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Thema: England und Großbritannien
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17.07.2001; Robert Morten

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Titel:Shakespeares großes Welttheater
Untertitel:Das monumentale dramatische Werk eines einmaligen Theatergenies.
kat:Hintergrund
subkat:Literatur
subsubkat: 
aufmacher:Dem einmaligen Theatergenie Shakespeare und seinen 38 Dramen ist vielleicht in einem mehrbändigen Kompendium beizukommen - hier kann nur gewagt werden, die Besonderheit seines Werkes in skizzenhafter Andeutung zu beschreiben und eine Antwort auf die entscheidenden Fragen zu suchen, was der Bühnenautor Shakespeare vorfand, was er an Eigenem beitrug und welche Charakteristika seine Schauspiele trotz deren elisabethanischer Zeitbedingtheit nicht veralten lassen. Darauf kommt es hier an: die Weite seines Horizonts zu zeigen - den überraschend unprovinziellen Blick eines Mannes aus der Provinz (dem 2000-Seelen-Ort Stratford in der Grafschaft Warwickshire) und seine intellektuelle Überlegenheit gegenüber akademisch gebildeten Rivalen wie Greene, Nashe oder Peele, den so genannten »University wits«.
text:Die Ingredienzen zu Shakespeares großem Welttheater sind bunt gemischt, zuweilen exotisch - doch auch englisch. Diese Vielfalt hat dazu beigetragen, die drei Dutzend Werke eines Dramatikers von zunächst rein lokaler Bedeutung schließlich in den Rang eines Welttheaters zu heben, womit zweierlei gemeint ist: ein Theater von größter Welthaltigkeit, aber auch ein Theater, das, ungeachtet aller Länder- und Sprachgrenzen, globale Wichtigkeit besitzt.
Grundlage für Shakespeares Arbeit als Bühnenautor war das vielfältig ausgeprägte Theaterleben seiner Zeit: Schauspieltruppen aus London gaben häufig Gastspiele auf jeweils improvisierten Bühnen in der Provinz. So sind auch für Stratford Aufführungen in den Jahren 1573, 1576, 1579, 1584 und 1587 bezeugt. Die Theaterleidenschaft des jungen Shakespeare wurde wohl durch solche professionellen Darbietungen entfacht, ja manche seiner Biographen vermuten, dass er sich 1587 einer gerade in Stratford gastierenden Truppe anschloss, die Ersatz für einen ihrer Schauspieler suchte. Als er sich seit Ende der Achtzigerjahre in der Hauptstadt aufhielt, lernte er andere Formen des Theaterbetriebs kennen. In den Residenzen der Königin und der Aristokraten gastierten oft die von ihnen patronisierten Schauspieltruppen. Ebenfalls in geschlossenen Räumen spielten die Jurastudenten der Londoner »Inns of Court« - gebildete Amateure also - ihre Dramen, die vorwiegend der Tradition der Rachetragödie Senecasfolgten, während man in den theaterbegeisterten höheren Lateinschulen Komödien à la Terenz und Plautus zum besten gab. Dagegen fanden die volkstümlichen Theateraufführungen weitgehend im Freien statt: in den Höfen der Gasthäuser und auf städtischen Plätzen.
Als Shakespeare nach mehreren Jahren schauspielerischer Tätigkeit zu Anfang der Neunzigerjahre damit begann, selbst Bühnenstücke zu schreiben, war er mit dem Theater seiner Zeit sehr vertraut: mit dessen Repertoire, Techniken und Organisationsformen. Ein beobachtender, wissbegieriger, auf alles neugieriger, lesefreudiger Mensch ist er wohl gewesen - nur so wird die ungeheure Vielfalt seines Werks erklärbar: die bunte Streuung und Mischung seiner Vorlagen, Schauplätze, Motive, Probleme, Charaktere, Sprachstile und Gattungen. Höchstens für zwei oder drei seiner Dramen hat er die Fabel wohl selbst erfunden (»Verlorene Liebesmüh«, »Sommernachtstraum« und »Sturm«), für die 35 anderen bediente er sich aller möglichen Quellen, gleich welcher Textgattung diese angehörten. Erzählungen der ItalienerCintio, Bandello oder Fiorentino stehen neben jenen ihrer englischen Kollegen Robert Greene, Barnaby Rich, Thomas Lodge, Geoffrey Chaucer oder des Spaniers Montemayor.
Hauptquelle für Shakespeares Historien, aber auch für die Tragödien »König Lear« und »Macbeth« waren Holinsheds »Chronicles of England, Scotland and Ireland«, während er den Stoff für alle seine Römertragödien in Plutarchs Biographien fand - genauer: in Thomas Northsenglischer Übersetzung. Dass auch ältere Dramen vor dem alles sich anverwandelnden Zugriff des Meisters nicht sicher waren, ist nicht verwunderlich - eher, dass er diese Art von Vorlagen relativ selten nutzte: etwa Whetstones »Promos and Cassandra« (1578) für »Maß für Maß« oder die »Menaechmi« des Plautus für die »Komödie der Irrungen«.
Mit solch unvoreingenommener, weit durch die Literatur schweifender Auswahl der Vorlagen war zugleich die exotische Vielfalt der Schauplätze und Charaktere gegeben. Shakespeare bietet seinem Publikum beileibe nicht nur englische oder schottische Gefilde, sondern entführt es nach Verona (»Romeo und Julia«) und Venedig (»Othello« und »Der Kaufmann von Venedig«), nach Alexandria (»Antonius und Kleopatra«) und Ephesus (»Komödie der Irrungen«), nach Troja (»Troilus und Cressida«) und Athen (»Sommernachtstraum« und »Timon von Athen«). Zuweilen überlässt er der Fantasie des Zuschauers die Präzisierung einer märchenhaft vagen Topographie - etwa einer »Insel« (im »Sturm«) oder »Böhmens« (im »Wintermärchen«). An diesen Schauplätzen tummeln sich alle nur denkbaren Charaktere in einer enzyklopädischen Vollständigkeit, die jeden Charakterologen entzückt. In diesem Panoptikum treten auf: teuflisch intrigante Schurken (wie Jago) und edle Dulder (wie König Lear), jung Verliebte (wie Romeo und Julia) und lüsterne Alte (in »Troilus und Cressida«), Naive (wie Julia oder Troilus) und frivole Kokotten (wie Helena oder Cressida), Lästermäuler (wie Thersites) und philosophisch Redende (wie Odysseus).
Neben traditionell weisen, zumindest klugen und gar nicht närrischen Narren - eben »fools«, nicht »clowns« - (etwa in »König Lear« oder in »Was ihr wollt«) finden sich pedantische Gelehrte (wie Holofernes), ungeschlachte Handwerker (im »Sommernachtstraum«) und tumbe Polizisten (Dogberry und Verges in »Viel Lärm um nichts«). Der lebenslustige Schürzenjäger Falstaff (in »Heinrich IV.« und den »Lustigen Weibern in Windsor«) repräsentiert eine völlig andere Weltsicht als der strenge Puritaner Malvolio (in »Was ihr wollt«). Der alttestamentarisch Rachsüchtige (Shylock) kontrastiert mit christlich Vergebungsbereiten (Portia) - und dem eigentlich racheunwilligen Hamlet. Und schließlich wimmelt Shakespeares - wie überhaupt die elisabethanische - Bühne von monomanisch Ehrgeizigen und Machtgierigen: Herr und Frau Macbeth, Jago, Richard III. sind hier beispielsweise zu nennen.
Diese Schar bunter, ja mitunter schräger Vögel transportiert eine unglaubliche Fülle von Motiven, Themen und Problemen, die dem elisabethanischen Publikum großenteils so vertraut waren, dass es diese erwartete. Wenige Beispiele müssen hier genügen. In einer Zeit, da König Jakob VI. von Schottland (ab 1603 als Jakob I. König von England) in einer Abhandlung (»Demonology«, 1597) öffentlich seinen Glauben an Hexenzauber und Geister kundtut, ist eine weitverbreitete Vorliebe für Magie und übernatürliche Erscheinungen nicht erstaunlich. Kein Wunder also, dass Shakespeare auch in dieser Hinsicht die Erwartungshaltung seines Publikums befriedigt: Geistererscheinungen (etwa in »Hamlet« oder »Macbeth«), Hexen (in »Macbeth«), Zauberei (im »Sturm« zum Beispiel) und Zaubertränke (so in »Cymbeline« oder »Romeo und Julia«) sind häufig verwendete Motive, die nicht lediglich publikumswirksame Zutaten sind, sondern für Struktur und Bedeutung der jeweiligen Dramen oft größte Wichtigkeit besitzen. Zum Teil sehr alte und auch im elisabethanischen Schauspiel beliebte Motive sind weiterhin die Verwechslung von Personen (in der »Komödie der Irrungen« etwa), vorgetäuschter Wahnsinn (Hamlet zum Beispiel) - und der bereits im hellenistischen Roman häufige Schiffbruch mit Trennung und Zusammenführung der davon betroffenen Menschen. Von letzterem Motiv macht Shakespeare mehrmals Gebrauch, so in der »Komödie der Irrungen«, im »Sturm« und in »Was ihr wollt«.
Das alle Zeiten und Geschmacksrichtungen überdauernde Werk Shakespeares verdankt diesen Erfolg auch der großen Palette und vor allem der unübertroffenen Aktualität seiner oft zum Problem zugespitzten Themen. Doch trotz der problematisierenden Durchdringung seiner Stoffe erlag er nie der Versuchung, Thesenstücke zu schreiben, in denen Handlung und Figuren als Vorwand für irgendwelche Belehrungen durch den Autor herhalten müssen. Im Theater Shakespeares wurde - und wird - der Zuschauer nicht durch aufdringliches Zeigen, sondern durch unterhaltende Anschauung mit einem auch ihn betreffenden Problem konfrontiert. Zu derartigen immer währenden Fragen gehören vermeintlich erst in der Moderne aufkommende wie etwa die Suche nach der eigenen Identität (in der »Komödie der Irrungen«) oder die Flucht vor der Gesellschaft in die Natur (»Wie es euch gefällt«). Und gibt es Fragen von allgemeinerem Interesse als jene nach dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern (»König Lear«) oder jene nach dem Konflikt zwischen Freundschaft und politischer Überzeugung (»Julius Cäsar«)? Selbst ein scheinbar zeitgebundenes Thema (im »Kaufmann von Venedig«) wie der von den Elisabethanern heftig diskutierte »Wucher« hat eine grundsätzliche - und daher auch aktuelle - Dimension: Die moralischen und ethischen Aspekte kapitalistisch funktionierender Geldwirtschaft, ja der Stellenwert des Geldes überhaupt sind überlegenswert. Dass hier auch rechtsphilosophische Diskussionen über die mangelnde Deckungsgleichheit von Recht und Gerechtigkeit angeregt werden, sei nur angemerkt.
Der anhaltende Erfolg Shakespeares als Bühnenautor beruht nicht nur auf der thematischen Vielfalt und Aktualität seiner Stücke, seiner überaus geschickten Dramaturgie, seiner subtilen Charakterzeichnung, sondern nicht zuletzt auf seiner souveränen Handhabung der englischen Sprache, deren stilistische Möglichkeiten er wohl als erster in derartig vielfältiger Funktion nützt. Shakespeares Sprachmeisterschaft ist vor allem durch zwei Merkmale charakterisiert: seinen beeindruckend großen Wortschatz, der auf mindestens 20 000 Wörter geschätzt wird, und die vielen von ihm geprägten Wortneubildungen, deren Zahl 2000 oder gar 3000 beträgt. Solch ein umfangreicher Wortschatz ist nur durch intensive Lektüre zu erwerben. Vom Lesehunger Shakespeares war ja schon die Rede - jener Leidenschaft des Autodidakten, die wohl auch bei ihm ein gewisses Defizit an formaler, akademischer Bildung mehr als wettmacht. Die große Zahl seiner sprachlichen Neubildungen wiederum ist untrügliches Indiz für Shakespeares Kreativität, die sich - wie auch bei der originellen Anverwandlung vorgefundener Themen - keineswegs mit der erinnernden Weitergabe von bereits Bekanntem begnügt.
Diese meisterhafte Beherrschung des Englischen und fantasievolle Erschließung neuer sprachlicher Möglichkeiten ermöglichen es Shakespeare, in seinen Werken alle stilistischen Register zu ziehen. Dass sein unerhörtes sprachliches Feuerwerk vielen damaligen Theaterbesuchern zum Teil unverständlich blieb, doch von ihnen als Prunkstück wie die damals üblichen Prachtkostüme geschätzt wurde, muss als sicher gelten. In seinen bei keinem anderen englischen Autor zahlreicheren Wortspielen treibt Shakespeare seine sprachliche Virtuosität auf die Spitze. In dieser Hinsicht bedient er den elisabethanischen Publikumsgeschmack derart auffällig, dass spätere Kritiker, wie Dr. Samuel Johnson im 18. Jahrhundert, ihm seine Vorliebe für solche »puns« als marottenhafte Verirrung vorwerfen. Diese Wortspiele mussten späteren, prüderen Zeiten umso suspekter erscheinen, als sie wichtiger Bestandteil von Shakespeares häufig anzutreffender »Unanständigkeit« sind - jener »bawdy language«, die in seinem Vokabular immerhin mit mehr als 1000 Ausdrücken zu Buche schlägt.
Wenn ein Autor eine einzige Sprache »mehrsprachig« verwenden kann, dann ist es Shakespeare. Da klingt von der Bühne die poetische, petrarkistisch getönte Sprache des todunglücklichen Liebespaars Romeo und Julia, während in »Troilus und Cressida« ganz anders geredet wird: Zynische Obszönitäten dringen aus dem Munde der schönen Helena, der treulosen Cressida, des lästernden Thersites und des kuppelnden Pandarus, denen allen der Sinn nicht nach romantischer Liebe steht, sondern nach Sex - so reden sie denn auch. Im Vergleich zu diesen depravierten Charakteren hört sich die Sprache des ewigen Schürzenjägers, Vielfraßes und Saufbruders Falstaff weit sympathischer an. Oft nutzt Shakespeare die unterschiedlichen Wirkungen mehrerer Stilregister, um so in ein und demselben Stück die Kontrastwirkung gegensätzlicher Welten und Charaktere zu verstärken. Die Weltentrücktheit des romantisch verliebten Paares Romeo und Julia gewinnt deutlichere Kontur durch ganz anders denkende - und daher witzig frivol redende - Figuren: Mercutio und Julias Amme beispielsweise. Meisterstücke solcher Kontrastierungskunst sind gleich mehrere Komödien Shakespeares. In der »Komödie der Irrungen« etwa stehen lyrische Reimpassagen neben derben Knittelversen und grotesker Prosa; die jeweiligen Stilregister und metrischen/prosaischen Darbietungsformen werden funktional eingesetzt.
Noch raffinierter geht Shakespeare in der Komödie »Was ihr wollt« vor, die ihre Welthaltigkeit nicht zuletzt aus einem Gewebe gegensätzlicher Haltungen und Redeweisen bezieht: komplizierter Syntax (des Puritaners Malvolio), Alltagssprache (Violas), hochgestochen metaphernreicher Redeweise (Orsinos) und aus Liedern unterschiedlicher Stilhöhe. Den Gipfel sprachlicher, rhetorischer und stilistischer Virtuosität erklimmt Shakespeare jedoch in seiner »Verlorenen Liebesmüh«. Hier erreicht die Diskussion zeitgenössischer Sprach- und Stilmoden einen Höhepunkt der Subtilität, auf den das durchschnittliche Publikum der damaligen öffentlichen Theater dem Dichter nicht mehr folgen konnte: Diese Komödie war für aristokratische Kenner bestimmt.
Hier wird Sprache nicht lediglich vielfältig verwendet, hier wird ihre Vielfalt zum Thema. Im modernen Wissenschaftsjargon: Diese Komödie behandelt »metasprachliche« Themen; in Shakespeares eigenen Worten, die er Moth, dem Pagen Armados, in den Mund legt: »Sie waren auf einem üppigen Sprachbankett und haben sich die Brocken gestohlen«. Ihm antwortet der »clown« Costard: »O ja, sie zehren schon lange aus dem Almosenkorb der Worte ... « Genau dies spiegelt Shakespeares Haltung wider, der in der »Verlorenen Liebesmüh« alle möglichen Stile und Redeweisen ironisch, zum Teil parodistisch Revue passieren lässt: die von Latinismen wimmelnde Sprache des Pedanten Holofernes, bombastische Rhetorik, schwülstige Manieriertheit, überhitztes Liebesgestammel der höfischen Herren. Der mehrsprachigeShakespeare beherrscht alle diese Idiome und distanziert sich gleichzeitig von ihnen.
Und zum Schluss die bereits zu Beginn anklingende Gretchenfrage: Welchen eigenen Beitrag leistete Shakespeare zu all den ihm verfügbaren Materialien und Techniken, der seine Stücke unverwechselbar macht und alle Zeiten überdauern ließ? Seinem kombinatorischen und kreativen Genie gelang es, aus der disparaten Fülle vorgefundener Motive, Themen, Charaktertypen und Sprachstile jeweils ein originelles Theaterstück zu schmieden, das die Verschiedenartigkeit der Zutaten kaum noch erkennen lässt. Er ist der einzige erfolgreiche Alchimist: Aus weniger edlen Elementen stellte er Gold her.
Nur wenige Proben dieser seltenen Kunst, behelfsweise nach Gattungen geordnet, können hier besichtigt werden - »behelfsweise«, da das Gattungsgefüge in der elisabethanischen Zeit keineswegs stabil war und ein freier Geist wie Shakespeare sich über derartige kleinliche Abgrenzungen sogar lustig machte. Den Polonius im »Hamlet« lässt er das Repertoire der gerade eingetroffenen Schauspieltruppe in grotesker Pedanterie so beschreiben: »Tragödie, Komödie, Historie, Pastorale, Pastoral-Komödie, Historiko-Pastorale, Tragiko-Historie, Tragiko-Komiko-Historiko-Pastorale ...« Gerade Shakespeares Vermischung der seit der Antike säuberlich voneinander getrennten Komödie und Tragödie wie auch seine souveräne Missachtung der vermeintlich von Aristoteles geforderten Einheiten (der Handlung, des Ortes, der Zeit) tragen zur Vitalität seines Theaters wesentlich bei.
In seinen zehn Historien gelingt es Shakespeare, aus zahlreichen historischen Daten und Vorgängen jeweils ein dramatisches Gefüge zu konstruieren, das mehrfachen Sinn stiftet: einen aktuellen, der (nach dem Sieg über die Armada 1588) das nationale Selbstbewusstsein fördert oder etwa (angesichts der Ehelosigkeit Elisabeths I.) die katastrophalen Konsequenzen ungeklärter Thronfolge vorführt, und einen überzeitlich gültigen, der beispielsweise nach der Schuld des Herrschers und der Legitimität eines Umsturzes fragt. Und dargeboten wird dies nicht in lediglich schildernden historischen Bilderbögen, sondern mit feiner psychologischer Vertiefung, die manche seiner Historien der Tragödie annähert. Andererseits bietet Shakespeare (nicht nur in seinen Historien) dem Publikum zusätzliche Unterhaltung durch auflockernde, oft komische Nebenhandlungen: Die Falstaff-Episoden in »Heinrich IV.« sind dafür Paradebeispiel.
Shakespeares zehn Tragödien wurzeln zwar in den zu seiner Zeit verfügbaren Traditionen und Konzepten, überwinden diese aber auch. In seinen Tragödien sind einerseits Elemente der mittelalterlichen »De casibus«-Literatur unübersehbar - exempelhaften Erzählungen, die über den (durch eine launische Fortuna bewirkten) Fall vor allem weltlicher Herrscher berichten. Andererseits lässt sich Shakespearedurch die in der Tudorzeit für England neu entdeckte Seneca-Tragödie anregen - wie auch durch Kyds Rachetragödie und Marlowes Darstellung grandios redender Monomanen. All diese Einflüsse verarbeitet Shakespeare in unnachahmlicher Weise zu Eigenem: Er strafft die Vorlagen, konstruiert bühnenwirksame »plots« und entwirft unverwechselbare Charaktere. In seinen Tragödien werden aus besonderen »Fällen« zeitlos gültige, uns alle bewegende Fragen entwickelt. Vor allem die verschiedenen Erscheinungsformen des Bösen werden in bedrückender Intensität vorgeführt. Zwar erinnert die Fixierung einiger Figuren auf ein bestimmtes verhängnisvolles Grundübel (Hochmut, Zorn, Neid zum Beispiel) an mittelalterliche Darstellungen der sieben Todsünden, doch ist mancher Tragödie Shakespeares die christliche Geborgenheit abhanden gekommen.
Von den drei im Repertoire Shakespeares vorkommenden dramatischen Hauptgattungen bieten seine 18 Komödien den größten Variantenreichtum, der allerdings auch darauf beruht, dass in der elisabethanischen Zeit jedes Stück als Komödie gelten kann, so der Anglist Ulrich Suerbaum, »in dem am Schluss alle Personen noch am Leben sind«. Shakespeares Komödienpalette reicht von heiteren, unbeschwerten Stücken (»Sommernachtstraum«) bis zu ernsten, ja düsteren, bei denen dem Publikum das Lachen oft genug vergeht (»Der Kaufmann von Venedig« oder »Troilus und Cressida«), von philosophieträchtigen Problemstücken (»Maß für Maß«) bis zu Märchendramen (»Der Sturm«). Der anhaltende Erfolg der meisten Komödien Shakespeares ist auf mehrere Tatasachen zurückzuführen: geschickt aufgebaute Handlungen, unübertrefflichen Sprachwitz und durchweg sympathische Charaktere, deren Torheiten - oft durch die alle Sinne verwirrende Liebe verursacht - nicht satirisch gegeißelt, sondern humoristisch belächelt werden. Belehrung und moralische Verbesserung waren nicht das Anliegen Shakespeares - eines auch in dieser Hinsicht weltoffenen Mannes aus der englischen Provinz, dem nichts Menschliches (zumindest gedanklich) fremd blieb.
Autor:Robert Morten
Datum:Samstag, 11.August.2001, 18:53
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