Chronik des Rock

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Es war einmal ein Jahrhundert ...
Eine Chronik der Rock-/Popmusik des 20.Jahrhunderts in sechs Teilen.
Teil 1 Die ganz frühen Jahre (bis 1945)
"Me And The Devil Blues"
Anthology of American Folk Music"Es war einmal ein junger Mann
der trieb es leider ziemlich bunt
Der Teufel kam um ihn zu holen
dafür gab es manchen Grund ..."


(Paola: "Die Geschichte vom Teufel und dem jungen Mann")
... weiter.
Sonntag, 12.8.2001, 14:23  Robert Morten

Teil 2 Die frühen Jahre (1946 bis 1959)
Country & Folk-Music, American Yodeling 'Round And 'Round Hitler's Grave
Jimmie Rodgers"Mein Vater streichelt mir den blonden Schopf
Er wollte, daß ich mal Minister werde
Doch Kinder haben einen eig'nen Kopf ..."


(Howard Carpendale: "Bilder meines Lebens")
... weiter.
Sonntag, 12.8.2001, 14:36  Robert Morten

Teil 3 Die 60er Jahre
"Ich will nicht wie mein Alter werden", oder: "Everybody Must Get Stoned".
The Kinks - Muswell hillibillies"Ihr lungert herum in Parks und Gassen
Wer kann Eure sinnlose Faulheit nur hassen?
Wir!"


(Freddy Quinn: "Wir", 1967)

"Sie haben unsere Narren eingesperrt, damit sie selbst als weise dastehen."

(Roy Harper, 1969)
... weiter.
Sonntag, 12.8.2001, 14:43  Robert Morten

Teil 4 Die 70er Jahre
"Oh dear, look what they've done to the blues", oder: "The King's gone, but not forgotten!"
The Clash - Give rope"So muß das Leben wohl sein
Es holt alle Verlierer mal ein
Ich kam verlassen mir vor
Drum adios, adios, adios amor..."


(Andy Borg; "Adios Amor")


"I'm so confused
I wish I could die die die..."


(Cockney Rebel: "Psychomodo")
... weiter.
Sonntag, 12.8.2001, 14:48  Robert Morten

Teil 5 Die (verpönten) 80er Jahre
"We're the children of the eighties", oder: "O Sole Mio - Gott auf Werbetour".
The Sparks - Indiscreet"umbaba umbaba umbaba
...
Ich habe meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt."


(Roland Kaiser, "Santa Maria")

"Die Bombardierung der Sowjetunion hat begonnen!"

(Ronald Reagan, Sprechprobe, ca. 1986)

"Where's the justice
where's the sense?"


(Richard & Linda Thompson, "Walking On A Wire", 1982)
... weiter.
Sonntag, 12.8.2001, 15:03  Robert Morten

Teil 6 Die 90er Jahre
"My Mother Is Not The White Dove & The Future Is A War", oder: "All My Heroes Are Dead".
Radiohead - Kid A"Baby, du hörst Country und auch mal 'nen Rock and Roll
und dein kleiner Bruder findet Grunge und Metal toll
...
Baby schau mal rüber, schau über den Tellerrand
sag mir nicht du weißt nichts oder du hätt'st nichts gekannt
...
4, 5, 6, sing doch mal 'nen Schlagertext ..."


(Roy Luna: "Eins, Zwei, Drei - A little Schlagermusik")

"The 68-convention was a-singing "The times they are a-changin'", but I guess that they had changed back..."

(Dar Williams: "All My Heroes Are Dead")

"Come on people now, smile on your brother and
everybody get together, try to love one another right now"


(Nirvana: "Territorial Pissings")

"Feel like a prisoner in a world of mystery
I wish someone would come
And push back the clock for me..."


(Bob Dylan: "Highlands")

"I don't need the trail moonlight
This old horse knows his way home..."


(John Flynn: "Old Paint")
... weiter.
Sonntag, 12.8.2001, 15:16  Robert Morten

Artikel
Die 90er Jahre
    "My Mother Is Not The White Dove & The Future Is A War", oder: "All My Heroes Are Dead".
    Sie wissen selbst nur all zu gut, was in der vergangenen Dekade passiert ist, Sie sind die Konservenmusik- konsumenten, die Konzertsaalbesetzer. Trotzdem soll der Schritt vollzogen, das Gehirn noch einmal angestrengt, Vergangenheit bewältigt werden. Dieser letzte Teil, nehmen Sie es nicht persönlich, wird sehr persönlich. Mir ist grad danach. Einige von Ihnen kennen vermutlich "High Fidelity" von Nick Hornby (bei Gollancz/Knaur). Verdammt viele Hit-Listen kommen in diesem Roman vor, z.B. die besten Montag-Morgen-Songs. "Okay, Jungs, die fünf besten Songs über den Tod." Die fünf besten ersten Stücke auf der ersten LP-Seite, usw. Und natürlich, am Schluß, die fünf Lieblingsplatten aller Zeiten. Da ist das Scheitern vorprogrammiert. Was Hornby karikierte, schrieben uns all die Musikmagazine selbstbewußt und allen Ernstes vor: die 100 wichtigsten Alben eines ganzen Jahrhunderts, ranking-mäßig (!!) noch dazu. Die 90er Jahre kamen kaum vor. Nirvana, Massive Attack. Vielleicht die eine, selten die andere R.E.M.-Scheibe. Das war's auch schon. War's das wirklich? Langsam formuliert, regiert die Schnellebigkeit. Der Rhythmus paßt sich an, Worte werden kaum gebraucht, um das Lebensgefühl zu vermitteln. Sampling, ein Modewort. Ein Lied ist nicht ein Lied, sondern die Zusammenführung mehrerer. Die dazu nötige Ausstattung, quasi die Bandmitglieder, erhält man beim PC-Discounter im Ausverkauf, softwaremäßig verpackt, vom Bandleader gefühlvoll installiert. Output? Reizüberflutung. "American Pie" von Madonna.

    Dabei fingen die 90er Jahre vielversprechend an. Neil Young & Crazy Horse fanden zu ungeahnten Höhen zurück, veröffentlichten "Ragged Glory", ein Feedback-getränktes Gitarren-Inferno. Ganz anders, aber um nix schlechter: Beausoleil mit "Cajun Conja", Johnny Cashs "Unchained", die titellose David Byrne-CD, Willy DeVilles heroingeschwängertes "Loup Garou", Steve Earles "El Corazon", Van Morrisons "The Healing Game" sowie - perfekter Ausklang der 90er Jahre - Bob "I'm listening to Neil Young, I gotta turn up the sound/ Someone's always yelling turn it down" Dylans Grammy-verziertes "Time Out Of Mind". Da sind wir wieder bei den "Alten". Man kommt nicht um sie herum.

    Vergessen wir sie trotzdem mal für eine Weile. Wer sind wessen Erben? Oasis, Blur , Portishead, Pulp, Nine Inch Nails, Supergrass, Ocean Colour Scene, Cake, The Bathers, Belle & Sebastian, The Walkabouts, Beck, Natalie Merchant, Wagon, Counting Crows, The Breeders, Eels, Cranberries, Tindersticks, Bad Religion, Muse, Flaming Lips, Lambchop, Offspring, 16 Horsepower, Beth Orton, Lisa Mednick, Suede, Alanis Morissette, P.J. Harvey, Robyn Hitchcock, Indigo Girls, Maria McKee, Penelope Houston, Gary Floyd Band, Rachel Bissex, Rufus Wainwright, Smashing Pumpkins, The Wallflowers, Björk...? Kopf schütteln oder Kopf nicken? Wer davon ist zeitenüberdauernd? Wer wichtig für die kommenden Dekaden?

    Phänomen: Bis vor wenigen Jahren war's so, daß ich mich einem neuveröffentlichten Tonträger längere Zeit widmen konnte. Es gab gewisse Prozeduren, die ich einhielt, und: Vorfreude. Dann: Enttäuschung. Oder: Befriedigung. Das hat sich geändert. Massiv. Ich komme kaum mit dem Hören nach. Es gibt ja so viel. Täglich. Theorie: Ja, es gibt Zeitenüberdauerndes, auch heute noch, klar. Gültiges entstehen zu lassen, kann scheinbar einfach sein. Ein Gesangsmikrophon, eine Gitarre.

    Begeben wir uns also in ein (amerikanisches) Wohnzimmer. Vorweg: Der Sänger ist frustriert über den (zumindest musikalischen) Weltenlauf und weiß nicht, wie es mit ihm weiter gehen soll, die Aufnahmetechnik änderte sich viel zu sehr, da will er jedenfalls nicht mit. So sitzt er also in seinem Wohnzimmer, schaltet das Aufnahmegerät ein und spielt alte Songs. Ganz alte Songs. Da waren wir (er inklusive) noch nicht geboren. Es entsteht eine eigentümliche Stimmung, als ob die alten Sängerinnen und Sänger plötzlich in seinem Wohnzimmer stehen und ihm über die Schulter schauen, ob er deren Erbe ja auch würdig verwaltet. Sein Herz blutet, ihm ist auch keineswegs nach Fröhlichkeit zumute, so die Lieder: Weltschmerz, Vereinsamung, Verlust, Trauer, Wehmütigkeit, Mord, unglückliche Liebe, stets die Flucht vor Augen. Seine Stimme vereint das Elend Amerikas, die Tragödien seiner musikalischen Vorfahren: Blind Willie McTell, Blind Willie Johnson, Memphis Minnie, Frank Hutchinson und wie sie alle hießen, all jene, die uns den Grundstein legten und bis zum heutigen Tag so gut wie unbekannt und vergessen sind. Er liefert die Songs bei seiner Plattenfirma ab, die wissen kaum etwas damit anzufangen, promoten es auch nicht, zu widerspenstig und vor allem alt, einfach alt klingen die Songs. Wer soll das kaufen? Wo soll das gespielt werden? MTV? Viva? VH-1? Es ist nicht einmal elektrisch, damit es "Unplugged" zu Ehren kommen könnte. Na ja, veröffentlichen wir es halt. Auch wenn er nicht mehr relevant und anscheinend ziemlich verschroben ist, hat er ja doch einen Namen: Bob Dylan. Greil Marcus darüber im 1997 erschienenen "Invisible Republic: Bob Dylans Basement Tapes" (Holt/Rogner & Bernhard): "The songs removed him from the prison of his own career and returned him to the world at large." Heraus kam absolut zeitloses wie "Pink Moon" von Nick Drake (siehe Teil 4 dieser Serie). Und das in den 90er Jahren. Da soll noch jemand behaupten, the "World Gone Wrong". Erstaunlich.

    Weitere sehr gute Akustik-Performances: Dar Williams ("Honesty Room", "Mortal City"), Neil Young ("Harvest Moon"), Johnny Cash ("American Recordings"), Tom Petty ("Wildflowers"), Lucinda Williams ("Car Wheels On A Gravel Road"), Ana Egge ("River Under The Road"), Betty Elders ("Crayons"), Gillian Welch ("Revival", "Hell Among The Yearlings"), Nirvana ("Unplugged In New York"), Small Potatoes ("Time Flies"), Kate & Anna McGarrigle ("Matapedia"), Michelle Shocked ("Kind Hearted Woman"), Loudon Wainwright III ("Social Studies").

    Es gibt Themen, die waren anscheinend irgendwie schon immer da: Liebe und die dazugehörige Eifersucht, die nicht selten blutig endet. Oder: Mord, Amok, Koma, Tod. Nick Cave verarbeitete dieses Gewaltige Thema auf "Murder Ballads". Alte Quellen wurden dabei angezapft: Zum Beispiel "Henry Lee" oder "Stagger Lee", beides Songs, die auf "World Gone Wrong" und "Anthology Of American Folk Music" (siehe Teil 2 dieser Serie) zu finden sind. Ob Dick Justice und Frank Hutchinson heute ähnlich klängen, kann nur vermutet werden. Die Blutspur von "Murder Ballads" jedenfalls endet versöhnlich. Kindlich-ironisch mit "Death Is Not The End" von - richtig - Bob Dylan, dessen Version wiederum auf "Down In The Groove" von 1988 zu finden ist, das wiederum sechzig Prozent Cover-Versionen beinhaltet ... Cover-Versionen also.

    Die 90er Jahre lebten davon. Ziemlich gut sogar. Wozu sich übermäßig anstrengen, wenn das Füllhorn quasi endlos ausschütten kann? Schließlich passen die alten Songs auch wirklich gut in neue Kleider. Michelle Shocked gelang mit "Arkansas Traveller" eine wunderbare Amerika-Zeit-Reise. Leslie Shatz blieb da schon in konventionelleren Schienen, versuchte einfach diese Songs vor dem Vergessen zu bewahren. Marke Archiv. Ihre Versionen sind gut, widerspiegeln allerdings in keinster Weise die 90er Jahre. Da mußte schon jemand herhalten, der sich den Gewehrlauf in den Mund steckte. Das Foto kennen wir. "Where Did You Sleep Last Night?" von Leadbelly (1888 bis 1949) in der Version von Nirvana, personifiziert durch Kurt Cobain (1967 bis 1994), der auch tatsächlich den Abzug drückte, also jung starb und dadurch zur Kult-Figur wurde. In dieser Version jedenfalls ist die Eifersucht hörbar und das ganze restliche Leiden wie auch die Leidenschaft selbst des jungen Sängers. Vergleicht mal die Originalversion von Leadbelly, zu finden z.B. auf "Goodnight Irene" (1996), ferner die Version des jungen Bob Dylan (das leider nicht regulär am Markt zu finden ist) und ihr hört drei verschiedenartig interpretierte Lieder, obwohl die Instrumentierung jedes Mal so gut wie identisch ist.

    Das klingt jetzt schon ziemlich wissenschaftlich und das hat seinen guten Grund, denn in den 90er Jahren wurde Musikgeschichtsaufbereitung ziemlich populär. Der Markt wurde und wird weiterhin noch mit CD-Boxen regelrecht überschwemmt. Die meisten stellen so eine Art "Best of ..." mit zum Teil bis dato unveröffentlichten Studio- und/oder Live-Aufnahmen dar. Nicht alle sind gelungen (Roxy Music!), manche sehr. Ein Box-Highlight stellt Allen Ginsbergs "Holy Soul Jelly Roll - Poems & Songs" dar, was nicht nur Literatur, sondern eben auch viel Musik bedeutet (siehe auch Teil 5 dieser Serie). Eigentlich eigenartig, daß unsere Schnellebigkeitsgesellschaft CD-Boxen mit Monsterlängenspieldauer verträgt. Live-Konzerte passen da schon besser ins Bild - der Moment, dabei zu sein, darüber zu reden, oder es (das Konzert) gleich wieder zu vergessen.

    Ein Monsterprojekt, beginnend 1988, abgeschlossen 1992, realisierte einer, der dem improvisationsgepaarten Perfektionismus nahe stand und seit 1964 als Live-Künstler agierte: Frank Zappa. "You Can't Do That On Stage Anymore" (6 DoCDs) beziehungsweise "The Best Band You Never Heard In Your Life" (2 DoCDs) nennt sich diese beeindruckende Sammlung magischer Live-Momente, die so gut wie ohne Overdubs auskommt und keinerlei Chronologie einhält, sondern einzig Zappas Gedanke, ihn als ideen- und variantenreichen Live-Musiker in Erinnerung zu behalten. Das ist ihm gelungen, unberechenbar wie er war.

    Bleiben wir gleich bei denjenigen, die das Jahr 2000 nicht erlebten: Townes Van Zandt, Jerry Garcia, Jeff Buckley, Rio Reiser, Doug Sahm, Allen Ginsberg, Nusrat Fateh Ali Khan, Curtis Mayfield, Rick Danko, Mark Sandman, Fred "Sonic" Smith, Sterling Morrison, um nur einige wenige aufzulisten.

    Frage: Kann es den perfekten Song geben? Zweite Frage: Soll es einen perfekten Song geben? Wenn ja, und falls dieser zustande kommt - dritte Frage: Was dann? 1991 prägte der US-Schriftsteller Douglas Coupland mit dem Roman "Generation X - Tales for an Accelerated Culture" (Goldmann) den Begriff "Generation X". Waren deren Eltern noch von den Studentenbewegungen und dem Hippietum beeinflußt, sowie der Glaube vorhanden, daß (dadurch) der Weltfriede entstünde, sehen sich die Kinder, die "Generation X" eben, als Verlierer in einer ruinierten, trostlosen Welt voll Umweltzerstörungen und atomaren Bedrohungen. Unbefriedigende, noch dazu schlecht bezahlte Jobs treiben die ab 1960 Geborenen oftmals in eine Art innere Emigration. Dabei fiel 1989 die wohl symbolkräftigste Mauer. Die unsichtbaren blieben uns erhalten.

    Wen wundert es also, daß Techno entstand, diese abstruse computergenerierte Tonerzeugung und Tonmanipulation, und zum fixen Bestandteil mehrtägiger Massenveranstaltungen wurde. Hektische, synthetische Beats, Textfragmente, gesampelte und geloopte Melodieversatzstücke als stets wiederholende Klangcollagen, dazu Ecstasy-Tabletten - und schon haben wir einen weiteren Begriff: "Generation XTC", geprägt vom Autorenduo Friedhelm Böpple und Ralf Knüfer ("Generation XTC - Techno und Ekstase", Volk & Welt). DJs wie Sven Väth sind mittlerweile gefeierte Musiker - Musiker, die ohne Akkorde auskommen und was sich vor 30 Jahren "Woodstock" nannte, heißt gegenwärtig "Love Parade". Der prägnanteste Unterschied: "Woodstock" blieb einmalig. "Love Parade" ist wie Weihnachten.

    Die "Generation X(TC)" kümmert sich nicht um Politik, protestiert daher auch nicht. Protest - im wesentlichen - bleibt weiterhin der Folk-Szene vorbehalten. Folk-Music bedeutet nicht mehr ausschließlich Akustik-Gitarre und Gesang, sondern ein Gruppen-Gefüge, noch dazu "Eing'steckt" (wer weiß, vielleicht kam es dadurch auch zum "Ausg'steckt"-Hype, also "Unplugged", wie es üblicherweise heißt). Die Texte behandeln Kindesmißbrauch (Betty Elders "Crack In The Mirror"), Todesstrafe (Indigo Girls "Faye Tucker"), (Golf)-Krieg (Loudon Wainwright III "Bad Man"), Protest gegen das Cannabis-Verbot (Dar Williams "The Pointless, Yet Poignant, Crisis Of A Co-Ed") oder Zukunftsangst im allgemeinen (Exene Cervenka "The Future Is A War").

    1988 wiederbelebte das Eiscreme-Hersteller-Duo Ben & Jerry nach mehr als 20 Jahren Pause das Newport Folk-Festival, schufen damit erneut eine Art Lobby für "politisch korrekte" MusikerInnen. Alternde Folkstars wie Tom Paxton und Janis Ian stehen mit jungen Independent-Folkies wie Sinead Lohan, The Burns Sisters und The Nields auf der Bühne. Nicht nur das Eis, auch das Flair in Newport ist unwiderstehlich. Ein Erlebnis sozusagen. Parallel dazu formierte sich aufgrund des Konzepts von Sarah McLachlan die Musikerinnen-Szene und zelebriert seit 1997 das Festival "Lilith Fair - A Celebration Of Women". Musikalisch betrachtet sind keine Grenzen gesetzt. Einzige Bedingung: Frau sein. Der Reinerlös von "Lilith Fair" kommt Frauenorganisationen zugute.

    Und überhaupt, die karitativen 90er Jahre: Zu Beginn des Jahrzehnts etablierte sich die feine CD-Serie "Red Hot AIDS Benefit Series", beginnend mit "Red Hot & Blue". Zahllose MusikerInnen aller Genres (von David Byrne bis George Michael, von Lisa Germano bis Lisa Stansfield, von Uncle Tupelo bis Soul Asylum) spendeten einen extra dafür eingespielten Song. Eingekleidet, je nach musikalischem Thema der CD. Diese Serie widerspiegelt meines Erachtens die 90er Jahre am perfektesten, musikalisch wie inhaltlich. Das eingespielte Geld wird in die AIDS-Forschung und die Betreuung AIDS-Kranker gesteckt.

    Nun, das war's. Das heißt, fast. Was fehlt, ist noch ein gut durchdrungener Schluß, ein Letzt-Wort oder ein Zitat wie "Don't sell your soul for a song/ Life's more than three minutes long..." oder "The party's over, and there's less and less to say/ I got new eyes/ Everything looks far away...". Hilfreich wäre auch ein zutreffender Blick in die Zukunft, aber den mag und vor allem kann ich nicht bieten. Den Blick auf die Vergangenheit hatten wir ja bereits zur Genüge. Bliebe noch die Gegenwart übrig. Und die hat jede/r selbst zu ertragen. Amen.

    Plattentips zu den 90ern

    Weder chronologisch, noch alphabetisch und überhaupt wird da einiges ausgelassen, nämlich im Wesentlichen die bekannteren Sachen, von denen nur die allerwichtigsten erwähnt werden. Tatsache jedenfalls ist, daß ich nach vier A4-Seiten einfach aufgehört habe, weiter zu machen. Nun, das Ergebnis, stark komprimiert:

    Penelope Houston "The Whole World" (Normal, 1993): Das ist jenes Album mit "Glad I'm A Girl", aber auch den Rest sollte man kennen.

    The Saw Doctors "Same Oul' Town" (Shamtown, 1996): Ziemlich viel unplatter Irish-Rock. Straight. Einfach wunderbar.

    Mike Scott "Bring 'Em All In" (Chrysalis, 1995): Ex-Waterboys in Hochform. Volle Lautstärke wird empfohlen.

    Throwing Muses "University" (CAD, 1995): Kirstin Hersh bevor sie zur Solo-Künstlerin avancierte. Sperrig. Öffnet sich erst so nach und nach, aber dann ist das Vergnügen dafür umso größer.

    Victoria Williams "Loose" (Mammoth, 1994): Sie hat nicht nur einen guten Ruf, sie verdient ihn sich auch. Nicht nur mit dieser Platte. Schönes Cover obendrein.

    Various "The Real Music Box/25 Years of Rounder Records" (Rounder, 1995): Ein Jubiläum und wir durften mitstaunen, was da alles im Rounder-Köcher ist! Vier Doppel-CDs mit vier Themen: Bluegrass, Blues, Folk, Louisiana-Music. Als Bonus eine Mix-CD. Wunderbare Photos. Die Highlights wollen und wollen bei dieser Compilation-Box einfach kein Ende finden. Bösartige Zungen behaupten, weil darauf nix aus den 90ern ist ...

    Various "Honor: A Benefit For The Honor Of The Earth Campaign" (Daemon, 1996): Exene Cervenkas schreierfülltes "The Future Is A War" ist nur ein Höhepunkt unter vielen. Der vermutlich beste Bruce Cockburn-Song ("Wise User") ist auch drauf.

    Moxy Früvous "Bargainville" (Atlantic, 1993) und "B" (Warner, 1996): Moxy, wie, wer, was? Eine kanadische Gruppe mit Harmoniegesang und ziemlich vielen Stilbrüchen aller Art. Live schlichtweg grandios. Harmoniegesang, Rap, Alternativ-Rock. Also von Beach Boys bis Beastie Boys und retour zu Nirvana. Alles in ihrer eigenen urtümlichen Art. Violent Femmes lassen grüßen.

    Zita Swoon "I Paint Pictures On A Wedding Dress" (Warner): Verrückt und unberechenbar wie die 90er. Da ist ziemlich viel drinnen.

    Sophie Zelmani "Sophie Zelmani" (Sony, 1995): Das Debüt war quasi makellos. Zwar nicht sehr kantig, dafür aber einfach schöne Folk-Music.

    Ana Egge "River Under The Road" (Lazy S.O.B., 1997): Ebenfalls ein Debüt. Die Texanerin macht so richtig texanische Musik mit echt texanischer Gitarre und urtexanischem Gesang. Unwiderstehlich. Quasi ein Naturereignis.

    Various "Songs Of The Civil War" (Sony, 1991): Darauf befinden sich Lieder aus dem Sezessionskrieg, neu eingespielt von u.a. Kate & Anna McGarrigle, deren Version von "Hard Times" zweifellos zu den besten gehört. Schon alleine deswegen Pflicht.

    Eddi Bo "Shoot From The Root" (Soulciety, 1996): SwampFunk, oder so ähnlich. Jedenfalls ziemlich groovy. Macht verdammt viel Spaß.

    The Burns Sisters "Songs Of The Heart" (BMI, 1992): Vier Schwestern zwischen Folk, Country und irischen Elementen. Sehr sympathisch. "Dance Upon The Earth" eine echte Herzeigenummer.

    Betty Elders "Crayons" (Flying Fish, 1995): "Crack In The Mirror" alleine ist schon ziemlich viel (Geld) wert. Die Sängerin tourte mit Joan Baez und ist trotzdem gut.

    Galaxie 500 "Copenhagen" (Rykodisc, 1997): Atmosphärisch dicht, viel Gitarrenlärm. War dem (Nach)hören nach ein gutes Konzert.

    Lisa Mednick "Artifacts Of Love" (Blue Rose, 1996): Eine Sängerin und Songwriterin, die mehr Aufmerksamkeit verdiente, als ihr zuteil wird. Aber so waren eben die 90er.

    Beth Orton "Trailer Park" (Heavenly, 1996): Siehe Lisa Mednick. Wobei Orton sich erst nach mehrmaligem Hören entfaltet und mit der Zeit gewinnt/reift. Eine Platte für einen ganzen Tag.

    Small Potatoes "Time Flies" (Folk Era, 1995): Das Duo Jacquie Manning und Rick Prezioso, also, wer sie kennt, aber das, leider, werden vermutlich nicht allzu viele sein. "Big Ol' Prairie Moon" ist eigentlich ein Song, der zeitlos genannt werden kann. Das schärfste American Yodeling in den 90ern. Dazu die Melodie, der Gesang, das Gitarrenspiel... Genug des Lobes. Anhören. Country & Folk kann wirklich gut sein.

    Lesley Schatz "Banjo Pickin' Girl" (Bear Family, 1993): Eine Schatztruhe voll Erinnerungen an diese alten Songs, die bekannt waren, als es noch kein Grammophon, geschweige denn einen CD-Player, gab.

    Setona "Tariq Sudan" (BMG, 1997): Der Titel sagt schon viel und läßt es ahnen. Hier handelt es sich um so-called World-Music. Aber mal ehrlich: World-Music, das ist doch ein dämlicher Begriff.

    Willie Schwarz "Live For The Moment" (Clearspot, 1999): Siehe . Des Sängers Vielfalt ist die Grandiosität der Welt.

    The Klezmatics "Rhythm + Jews" (Piranha, 1990): Knitting Factory meets The Stetl. Heraus konnte eigentlich nur Wunderbares kommen, was auch der Fall war.

    Sinead Lohan "Who Do You Think I Am" (Grapevine, 1995): Ein irisches Debüt, das eigentlich so gar nicht nach Irland klingt, dafür ziemlich unverschämt zwischen leisen Alternativ-Rock-Klängen und lauten Rickie Lee Jones-Elementen herumschwirrt.

    Tim O'Brien "Red On Blonde" (SugarHill, 1996): Ein Bluegrass-Album vollgepackt mit Bob Dylan-Songs.

    Gary Floyd Band "World Of Trouble" (Glitterhouse, 1995): On the 8th day Lord created the voice... Eines der besten Blues-Alben!

    Richard Thompson & Danny Thompson "Industry" (Rykodisc, 1997): Die zwei sind nicht verwandt, bitteschön, damit das ein für allemal klar ist! Das Album selbst bereitet thematisch die industrielle Revolution auf. Ein herrlicher Protest-Song ("Sweetheart's On The Barricade") neben vielen jazzbeeinflussten Folk-Songs, oder umgekehrt, wie man's grad hört.

    Wagon "Anniversary" (Glitterhouse, 1997): Landmusik aus den Staaten, wie sie besser nicht passieren konnte. Feinfühlig, intim, melodiös und gute bis seltsame Texte.

    Kate & Anna McGarrigle "Matapedia" (Rykodisc, 1996): Besser kein Kommentar, sonst komme ich wieder zu sehr ins Schwärmen.

    Maria McKee "You Gotta Sin To Get Saved" (Geffen, 1993): Die weibliche Version von Van Morrison. Nur halt jünger.

    Van Morrison "Hymns To The Silence" (1991), "Enlightenment" (1990), "The Healing Game" (1997) und "Philosopher's Stone" (1998, alle Polydor): Klar, der mußte ja jetzt kommen. Die sind quasi das Pflichtprogramm in Sachen VM-Musik der 90er. Der Rest kann dafür verschwiegen werden.

    Nine Inch Nails "The Fragile Nothing Halo Fourteen" (Interscope, 1999): Ziemlich einflußreich, diese Band.

    Im Gegensatz zu Loudon Wainwright III "Social Studies" (Rykodisc, 1999): den, nämlich, kennen noch immer viel zu wenige.

    Elvis Costello & The Brodsky Quartet "The Juliet Letters" (Warner, 1992): Wäre nicht Costellos (Sprech)-Gesang, würden die Briefe in der Klassik-Abteilung verkauft werden, aber so ist's halt doch "Rock". Crazy.

    Neil Young & Crazy Horse "Sleeps With Angels" (Reprise, 1994): Eines der vielen vielen sehr sehr guten Young-Alben. "Change Your Mind" alleine ist es schon wert oder "Western Hero" oder "A Dream That Can Last". Hat mehr Gutes auf einer Platte als so manche im ganzen Leben.

    Bob Dylan "World Gone Wrong" (Sony, 1993) und "Time Out Of Mind" (Sony, 1997): Wie man sich auch dreht und windet - da ist "er" und dann lange, sehr lange, nix.

    Rio Reiser "Himmel & Hölle" (Sony, 1995): Was Dylan für die Welt, war Reiser für deutschsprachige Musik. Himmel & Hölle sein Vermächtnis zu Lebzeiten. Gleichzeitig auch wirklich sein Höhepunkt an künstlerischer Kreativität und Vielfalt. Alternative (und hier abgebildet) "Unter Geiern" (Sony, 1997).

    Das war's noch lange nicht - es fehlen z.B.:

    Lambchop ("Thriller", "Nixon"), Eels ("Beautiful Freak"), Neville Brothers ("Brother's Keeper"), Jeff Buckley ("Sketches For My Sweetheart The Drunk"), Calexico ("Spoke"), Freakwater ("Old Paint"), Michelle Shocked ("Kind Hearted Woman"), Beausoleil ("Cajun Conja"), Warren Zevon ("Life'll Kill Ya"), Billy Bragg & Wilco ("Mermaid Avenue"), Wilco ("A.M.", "Being There"), Emmylou Harris ("Wrecking Ball"), Townes Van Zandt ("Highway Kind"), The Walkabouts ("Satisfied Mind", "Trail Of Stars"), Frank Zappa ("You Can't Do That On Stage Anymore, Vol. 1-6"), John Hiatt ("Walk On", "Little Head"), Robyn Hitchcock ("The Kershaw Sessions"), Ramblin' Jack Elliott ("Friends Of Mine"), Willy DeVille ("Loup Garou"), David Byrne ("David Byrne", "Feelings"), Blur ("13"), Morphine ("Like Swimming"), Randy Newman ("Bad Love"), Gillian Welch ("Revival", "Hell Among The Yearlings"), Nirvana ("Nevermind"), Liz Phair ("Whitechocolatespaceegg"), Steve Seskin ("To Be Who I Am"), Soraya ("On Nights Like This"), Dar Williams ("End Of The Summer", "Ben & Jerry's Newport Folk Festival '88 Live" (Vol. 1 + 2)), Lucinda Williams ("Sweet Old World"), The Flaming Lips ("The Soft Bulletin"), "Red Hot AIDS Awareness Charity" (CD-Serie) ...

    Nun sparen Sie mal schön und viel Spaß beim Hören!
Sonntag, 12.8.2001, 15:16  Robert Morten

Die (verpönten) 80er Jahre
    "We're the children of the eighties", oder: "O Sole Mio - Gott auf Werbetour".
    Das Jahr 1984 galt seit 1949 als Utopie, die nie erreicht werden sollte. David Bowie vertonte dieses Thema als erster in den 70er Jahren, Eurythmics dann, als es soweit war, als Soundtrack zum Filmspektakel nach George Orwells Romanvorlage. Wir lehnten uns erschrocken von den opulenten Bildern in unseren Kinosesseln befriedigt zurück, denn es war ja nur Hollywood und mit der Popcorn-Tüte in der Hand ist ja alles nur halb so schlimm. Auch wenn sich die Geschichte nicht 1:1 erfüllte, erfolgten dennoch politische Niedergänge: M. Thatcher (ab 1979), R. Reagan (ab 1981). Die Musikwelt reagierte darauf. Sozialkritik wurde laut und die dazugehörige Punk-Musik melodiöser. In GB entstand eine neue Welle in der Vielfalt namens UB40,Billy Bragg, Elvis Costello & The Attractions, Ian Dury & The Blockheads , The Specials, Dexy's Midnight Runners, Paul Weller (zunächst The Jam, dann The Style Council) als die wichtigsten Vertreter, die alle in ihrer eigenen Kunst Kritik an Thatcher übten.

    Mit "London Calling" schufen The Clash am Ende des Dekaden(z)wechsels eines der ultimativsten Rock-Alben. Da passt einfach alles: ein kräftiger, satter Sound, intelligente Texte, ungemein variantenreich und voller Überraschungen, die nicht verloren gehen. Speziell auch das Cover: 1956 hielt Elvis Presley seine Gitarre noch brav lächelnd in der Hand, 24 Jahre später zertrümmert Mick Jones endgültig diese Scheinwelt lächelnder Emporkömmlinge. Was blieb war der Schriftzug. Apropos Elvis Presley: Nach dessen Tod wandten sich sehr überraschend einige doch diversen Religionen zu. Gott war gefragt - ausgerechnet von jenen, die das Publikum lehrten, kritisch gegenüber jeglicher Institution zu sein. "Born Again" jedenfalls war das Motto von Bob Dylan, Van Morrison, Santana sowie Nina Hagen. Randy Newman antwortete postwendend persiflierend mit einem gleichlautenden Album. Nick Cave jedoch bezeichnet Dylans "Slow Train Coming", das erste Album aus Dylans "3faltigkeits-Serie", immer wieder als sein Lieblingsalbum und gleichzeitig als "dreckigste" Gospel-Platte, die er kennt. Auf "Shot Of Love" besingt Mr. Zimmermann, Religion hin - Glaube her, den Tod von Lenny Bruce und meinte damit vielleicht den kurz zuvor ermordeten John Lennon. Und Van Morrison veröffentlichte just-am-end in dieser Phase zwei seiner besten Platten und eine seiner schlechtesten. Ausgleich muss sein. "Common One" bringt eine der wunderbarsten Plattenseiten der Musikgeschichte überhaupt, nämlich die A-Seite. Deren drei Songs, "Haunts Of Ancient Peace", "Summertime In England", "Satisfied" sind schlichtweg ergreifend, bewegend, voller Inbrunst und tiefem, rural-ehrlichem Glauben und dabei durchaus groovy. Dem folgte mit "Beautiful Vision" ein noch kompletteres, wenn auch (für V.M.-Verhältnisse) gefälligeres Werk. Mit "Inarticulate Speech Of The Heart" kam der esoterisch-keyboard-gepflasterte Abgesang.

    Kommerziell erfolgreich war das alles nicht, Erfolg hatten ausschließlich beliebig austauschbare Gruppen wie Duran Duran oder Visage - die stellvertretend für die musikalische Plattheit der 80er Jahre leider erwähnt werden müssen. Am Anfang dieser Niederungen stand das letzte bedeutende Werk von David Bowie ("Scary Monsters And Super Creeps"), Auslösemoment eben jener so called "New Romantics". Bowies Album hätte sich bessere Nachfahren verdient. Wesentlich interessanter hingegen XTC, die sich lobenswerter- weise nicht vor Soundexperimenten scheuten. Auf ein recht neues Terrain begab sich auch die Amerikanerin Laurie Anderson. Ihre Performance "United States, Pt. I-IV" dauerte acht Stunden, die sie auf zwei Abende verteilte und letztendlich als 5-LP-Box veröffentlichte. Subtiler Humor-Protest in seiner unberechenbarsten Form kommt da zum Vorschein. Kurze, erzählende Geschichten stehen einer exzentrischen Musik gegenüber beziehungsweise umgekehrt, exzentrische Geschichten stehen einer kreuzbraven Musik gegenüber. Einige Jahre vor der Liaison Bill Clinton/ Monica Lewinsky sang Laurie Anderson in "Democratic Way", daß sie davon träumte, sie sei die Liebhaberin von Jimmy Carter, und: "hearing your name/ is better than/ seeing your face". Dieses Werk in seiner Gesamtheit zu erfassen ist nicht ganz leicht, man braucht Geduld und viel Zeit dazu, aber es lohnt sich. Begleitend zur 5-LP-Box bietet sich das Textbuch gleichen Titels an (Harper & Row, 1984, US$ 19.95).

    Laurie Anderson war mit dieser Multimedia-Performance Wegbereiterin und Ideenlieferantin für eine ihr nahestehenden Art-Rock-Gruppe namens Talking Heads, die wiederum wenig später mit "Stop Making Sense" den Musikfilm revolutionierten. Work-In-Progress mit einer erfrischend-belebenden Musik. Die Platte hingegen fällt ohne Film stark ab, absolut essentiell hingegen ist da schon deren Live-Anthologie "The Name Of This Band Is Talking Heads (1977-1982)".

    1982 übrigens kam ein neues Medium auf den Markt, das die Plattencover von ca. 30 cm Kantenlänge auf 13 cm schrumpfen ließ: Compact-Disc. Vorbei war's mit der Ästhetik. So schnell kann's gehen. Mitte der 80er Jahre erfolgte nämlich der endgültige Durchbruch der Silberwinzlingscheiben, Vinyl-Alben wurden kaum noch produziert, daher auch nicht mehr gekauft. Die Musikfans zerstörten ihre Plattenspieler, überschwemmten die Second-Hand- Läden mit Platten, die selbst zu Dumping-Preisen kaum jemand wollte. Die Musik-Industrie verdiente sich abermals eine goldene Nase, denn sie veröffentlichte sämtliche Aufnahmen der Vergangenheit nochmal: cash and cash only. Wo wir schon beim Geld sind: Musiker lernten in den 80er Jahren wirtschaftlich zu denken. Elton John, Diana Ross u.a. verließen ihre ursprüngliche Plattenfirma, zockten bei der neuen einmal ordentlich ab, kehrten wieder mit neuen Super-Verträgen zum Ursprungslabel zurück, der Effekt: noch mehr cash. Oder: Bands wie The Who , Doobie Brothers, The Eagles, Yes lösten sich (endlich!) auf, Super-Gagen führten sie allerdings leider wieder in eine Endlos-Schleife von Reunions. Der Effekt: "We're Only In It For The Money". Das frühere Anti-Establishment war nun selbst Teil des Establishments, kapitalistische Konzerne stiegen als Großsponsoren bei der Tour- Vermarktung ein, MTV entstand, das Ganze verkam mehr und mehr zum Kastenwesen. Der Effekt: Die Musikbranche mutierte zum Milliardengeschäft und the biggest hit von allen ist ein Schwarzer, der von Jahr zu Jahr weißer wurde: Michael Jackson. Gigantomanie ohne Ende?

    Der Hungersnot in Äthiopien stand ein von Bob Geldof organisiertes Medienspektakel gegenüber. Es sollte der Beweis angetreten werden, daß Musik Veränderungen herbeiführen kann. Live-Aid. Einer wollte sogar den Beweis doppelt antreten und sang sowohl in Wembley als auch in Philadelphia. Ein Anderer identifizierte sich derart mit den Hunger leidenden, daß er samt Familie Urlaub in Äthiopien machte. Nur drei Musiker zweifelten am Unterfangen "Live Aid", soffen den ganzen Tag lang, bis sie abends - eigentlich als Höhepunkt vorgesehen - durch ihren etwas irritierenden Auftritt die gute, heile Welt der Amerikaner zumindest eine Viertelstunde lang zerstörten.

    Aber wieder zurück zur Wirklichkeit, es war ja schließlich 25 O'Clock: The Sparks gelang mit zwei fulminanten Alben kurzfristig ein Comeback, The The und Violent Femmes tauchten auf und deren 80er-Alben sind, gelinde formuliert, sensationell. Jerry Harrison debutierte mit "The Red And The Black" und lieferte damit ein zeitloses Cross-Over-Album ab, abgesehen davon legte er sein "graues-Maus"-Image als "sprachloser Talking Head" ab. The Dukes Of Stratosphear führten uns zurück in die Psychedelia, Echo & The Bunnymen und The Stranglers schufen wunderschöne aurale Skulpturen, David Sylvian vertonte endgültig seine Liebe zu Japan. ABC gelang mit "Beauty Stab" eine gewagt-gelungene Mischung aus Klassik, The Clash und simplen Hard-Rock-Riffs, sie scheiterten allerdings in kommerzieller Hinsicht damit und produzieren seither nur noch Platt-Soul für hirnlose Supermärkte. Redskins veröffentlichten ein grandioses Album und das war's auch schon leider wieder - sie tauchten unter, soffen ab, was immer. Yoko Ono zeigte uns ihren Schmerz und Lennons blutverschmierte Brille und erntete damit mehr Mißfallen denn Anteilnahme. Die Welt ist komisch. Laut und gut waren noch Devo, Dead Kennedys und die frühen B-52's . Leise und gut war Michael Franks.

    Nochmal zurück zum Dekadenanfang: Die 80er Jahre begannen mit dem ersten bekannten Aids-Opfer in der Musik-Szene: Am 6. September 1983 starb Klaus Sperber, besser bekannt als Klaus Nomi, und Matt Johnson (The The) lieferte drei Jahre später den passenden Soundtrack zum Thema, nämlich "Infected".

    Das musikalisch befriedigendste Jahr der 80er war eindeutig 1982: Lou Reed lieferte mit "The Blue Mask" einen von zugegebener- maßen vielen Höhepunkten seines Schaffens. Dennoch ist diese Platte etwas Besonderes. Das Cover deutet bereits die Richtung an, ist es doch eine blaue Kopie von "Transformer". Erinnerungen an die 60er Jahre wie in "The Day John Kennedy Died" wurden selten besser in ein Musikkleid gepackt als hier und schließlich landete mit "Women" die schönste allen Frauen gewidmete Liebeserklärung auf dem Album. Einfach zum Verlieben schön. Und dann gab's noch dieses verrückte Ehepaar, die sich angeblich ärger als Punk-Rock-Bands aufführten, den Veranstaltern wären die Sex Pistols zur Betreuung auch weitaus lieber gewesen als dieses zornzerstrittene Duo, die zerstörte Garderobenräume zurückließen. Mit "Shoot Out The Lights" brachten Richard & Linda Thompson den musikalischen Höhepunkt aber gleichzeitig das Ende ihrer gemeinsamen Karriere. Für britischen Folk-Rock wurde damit eine ziemlich hohe Latte gelegt und bis heute nicht übertroffen. Und wie bei vielen Meilensteinen entstanden auch hier zwei Versionen: Eine erste, als unbefriedigend empfundene und daher zurückgezogene Version, bekannt als "The Rafferty Tapes", und die zweite, offizielle eben, die auch tatsächlich die bessere ist. Die Live-Auftritte aus jener Zeit waren geprägt vom Ehe-Frust, klangen also wütend-brachial und zutiefst emotional, dabei in bester Spiellaune, rotzig und ohne Sicherheitsnetz. Linda Thompson, 1982 noch zur besten Sängerin Englands gekürt, versagte letztendlich die Stimme: "You open your mouth and nothing happens", oder: Hysterical Dysphonia. Richard Thompson hingegen erlebte ein beständig-kreatives Hoch und veröffentlichte, als ob nichts gewesen wäre, mit "Hand Of Kindness", "Across A Crowded Room" und "Amnesia" gleich drei weitere Musik-Juwelen in den 80ern. Männer haben es eben leichter. Ungerecht, aber wahr.

    Frauen, die nicht scheiterten: Rickie Lee Jones und Grace Jones. Die (Nach)namensgleichheit täuscht, denn da taten sich divergierende musikalische Welten auf, die eine klang nämlich wie eine Mischung aus Tom Waits und Joni Mitchell, die andere setzte sich unnahbar-kühl zwischen Reggae und Funk. Die eine legte Soul in ihre Stimme, die andere avantgardistische Strenge.

    Zu guter Letzt sei noch der 10. Juni 1981 erwähnt. Man hätte dabei sein sollen im Bond's Casino am Times Square in New York City. Da trafen einander The Clash und Allen Ginsberg. Letzterer schrieb im Flug von Frankfurt nach New York ein Poem, "Capitol Air", Joe Strummer bat ihn auf die Bühne, das Publikum war irritiert. "Was soll dieser Alte da?" "President Ginsberg?" "Was soll das?" Pfiffe und Buhrufe. Unruhe. Dessen ungeachtet legte Ginsberg los: "I don't like the government where I live/ I don't like dictator-ship of the rich/ I don't like bureaucrats telling me what to eat/ I don't like police-dogs sniffin' around my feet...".

    Tief und zornig klang diese Stimme und im Hintergrund setzte das Quartett rumpelnd und krachend ein, niemals war Live-Musik besser - die Aufnahme erschien erst 1994 offiziell, daher: Vergessen Sie es wieder und schauen Sie in den Teil 6.
    Plattentips zu den 80ern

    Bob Dylan:
    "Shot Of Love" (1981, Columbia) - Ganz schön unterbewertet das gute Stück. Knallig das Cover, knallend der Sound und mit "Lenny Bruce" und "Every Grain Of Sand" fanden sich zwei stille Dylan-Highlights ein. Das Publikum rannte ihm trotzdem scharenweise davon. "Oh Mercy" (1989, Columbia) - Atmosphärisch dicht und ungeglättet. Schöner hätten die 80er Jahre nicht enden können.

    Van Morrison:
    "Poetic Champions Compose" (1987, Polydor) - Ein Glücksfall. Klingt dabei so leicht niedergeschrieben. Gibt viel zu entdecken. Andersrum: Van Morrison erlebte in den 80er Jahren ein beständig kreatives Hoch und gleichzeitig ein kommerzielles Desaster nach dem anderen.

    Talking Heads:
    "Remain In Light" (1980, Sire) - Für die meisten das wichtigste Album der vier Sprechschädel. Sperrig. Geheimnisvoll. Dunkel. Bizarr. Noch heute gültig. "Speaking In Tongues" (1983, Sire) - Jetzt mal ehrlich: Sie kennen (und mögen vielleicht sogar) diese unsägliche Tom Jones-Version von "Burning Down The House”? Bitte (bitte!) lernen Sie das Original kennen und (und!) die Live-Version von "Stop Making Sense" (1984, Sire). Sie werden begeistert sein und Tom Jones in den Müll werfen oder zumindest verdammen. Versprochen. "Speaking In Tongues" im übrigen, simpel formuliert, zählt zu den gelungensten und somit wichtigsten Alben der 80er Jahre. Entzückend (aber leider sehr teuer) das Art-Cover von Rauschenberg. Mit "Naive Melody (This Must Be The Place)" finden Sie zudem das Schaffens-Highlight des Quartetts. Der Text! Die Songstruktur! ... o.k., genug geschwärmt.

    The Dukes Of Stratosphear:
    "25 O'Clock" (1985, Virgin) + "Psonic Psunspot" (Farbvinyl! 1987, Virgin) - Ein Wagnis. Ein Abenteuer. Psychedelia und farbenfrohe Schattierungen nach Pilleneinnahme. Die CD-Anthologie heisst daher auch "Chips From The Chocolate Fireball" (1987, Geffen). Es lassen grüßen: Sir John Johns, The Red Curtain, Lord Cornelius Plum, E.I.E.I. Owen und Swami Anand Nagara alias XTC! War anscheinend viel zu abgehoben für eine breite Käuferschicht. Konkurs! Musikalisch gelungen.

    XTC:
    "Black Sea" (1980, Virgin), "English Settlement" (1982, Virgin), "Big Express" (1984, Virgin) und
    "Oranges & Lemons" (1989, Virgin) - Die musikalische Fortführung der Fab Four ohne freilich jemals kommerziell so richtig durchzustarten.

    Ian Dury & The Blockheads:
    "Do It Yourself" (1979, Stiff) + "Laughter" (1980, Stiff) - Da hatte er noch gut lachen, der gute Mann, kurz darauf war es leider vorbei mit seiner Popularität. ReggaePopPunkFunk und britische Mitgröhl-Gesänge. Absolut essentiell.

    Laurie Anderson:
    "United States Live" (5 LP- oder 4 CD-Box, 1984, Warner) - Ein Jahrhundertereignis!


    Ex-Clash-er "danach":
    Big Audio Dynamite:
    "This Is Big Audio Dynamite" (1985, CBS) + "No. 10, Upping St." (1986, CBS),

    Joe Strummer:
    "Earthquake Weather" (1989, CBS) und

    Topper Headon:
    "Waking Up" (1986, Mercury).

    Redskins:
    "Neither Washington Nor Moscow..." (1986, Metronome).

    Nine Below Zero:
    "Live At The Marquee" (16. Juli 1980, A & M).

    Dexy's Midnight Runners:
    "Searching For The Young Soul Rebels" (1980, EMI) + "Don't Stand Me Down" (1985, Mercury) - Zwei Naturereignisse, das Debüt zum Einen, der kommerzielle Flop zum Anderen. Soul. Gefühl. Virtuosität. Intelligente Texte. Traurig und einfach wunderschön rotzig.

    John Foxx:
    "Metamatic" (1980, Virgin) - Elektronik pur war ja modern in den 80ern, so auch kurzfristig John Foxx, der Gründer der späteren Langweiler Ultravox. Sein Debüt jedenfalls hat's in sich.

    Tubeway Army:
    "Replicas" (1979, Beggars Banquet) - "Are 'Friends' Electric?" war ein ziemlicher Hit, der Rest gut durchdrungener Synthie-Rock vom noch jungen Gary Numan. Was danach von ihm kam, könnt ihr getrost überhören.

    The Specials:
    "The Specials" (1979, Chrysalis) und "More Specials" (1980, Chrysalis) - Ska der 50er fusionierte mit Punk der 70er, heraus kam absolut Essentielles für die 80er!

    The Beat:
    "I Just Can't Stop It" (1980, Arista) - Politisch wertvoll!

    Linton Kwesi Johnson:
    "Making History" (1984, Island) - LKJ: das bedeutet großartige Literatur und hervorragender Reggae mit Dub-Sprengseln!

    Kewi University Of Swing:
    "Terracotta Me, Baby" (1983, Idiot Records) - Eigenwillig und skurril. Gerade richtig für die 80er Jahre.

    Squeeze:
    "Cool For Cats" (1979, A & M), Eastside Story" (1981, A & M) und "Sweets From A Stranger" (1982, A & M) - Was, unbekannt? Sofort kaufen!

    Difford & Tilbrook:
    "Difford & Tilbrook" - Die zwei Komponisten und Sänger von Squeeze mit einem fabelhaften Duo-Album, das leider ohne Promotion auskommen mußte.

    Joe Jackson:
    "Big World" (3 Plattenseiten, 1986, A & M) - Nie war Joe Jackson besser als mit diesen 15 Songs.

    The Costello Show:
    "King Of America" (1986, Demon) - Herr Elvis II. zeigte sich am Cover mit Krone, passend zum Titel, passend zu den Liedern.

    The Pogues:
    "If I Should Fall From Grace With God" (1988, Upfront) - Kennst eine, kennst alle, aber die sollte man wirklich kennen.

    Fairground Attraction:
    "The First Of A Million Kisses" (1988, BMG) - Gute Folk-Alben waren rar in den 80ern. Seltene Ausnahme!

    Michelle Shocked:
    "Short Sharp Shocked" (1988, Mercury) + "Captain Swing" (1989, Mercury) - Diese Frau hat derzeit keinen Plattenvertrag!! Schande!!!

    Loudon Wainwright III:
    "More Love Songs" (1986, Rounder) - Bis vor kurzem LWW III's bestes Album!

    Richard & Linda Thompson:
    "Shoot Out The Lights" (1982, Hannibal) - Vorsicht! Dieses Album würden Sie auch noch im Grab hören wollen.

    Roy Orbison And Friends:
    "A Black And White Night Live" (1989, Virgin) - Ein Live-Highlight par excellence! Da rollt die Freude und rockt der Spaß. Da schmalzt die Stimme und schauert der Rücken.

    J. J. Cale:
    "5" (1979, Mercury) + "Shades" (1980, Shelter) - Meine ganz persönlichen Lieblingsplatten für gewisse Tage. So viel Freiheit muß sein.

    Neil Young:
    "Landing On Water" (1986, Geffen) - Kompromisslos. Kantig. Voller Ideen. Synthie-Rock mit Punk-Texten.


    Ry Cooder:
    "Get Rhythm" (1987, Warner) - Mr. Cooder! Jetzt wird's schön langsam wieder Zeit für ein neues Album ohne dazugehörigen Film. Ohne Kubaner. Einfach so. Wie damals. Cooder pur. Ein zweites "Get Rhythm" halt.

    Steve Earle:
    "Guitar Town" (1986, MCA).

    Jerry Harrison:
    "The Red And The Black" (1981, Sire) + "Casual Gods" (1988, Fontana) - Hier paßt bei beiden Alben alles, vom Artwork des Cover bis zum wichtigsten Teil natürlich, der Musik. Engagiert. Sozialkritik. Aufmüpfig. Tanzbar. Funk-Groove. Afro-Roots. Produzent von Violent Femmes und Ex-Talking Heads.

    So, ich wollt' ja viel weniger Tips abgeben, einfach kürzer daran arbeiten, und jetzt ist genau das eingetroffen, der Punkt und so. Und aus.
Sonntag, 12.8.2001, 15:03  Robert Morten

Die 70er Jahre
    "Oh dear, look what they've done to the blues", oder: "The King's gone, but not forgotten!"
    "Love is free!"

    Dieser aus den 60er Jahren stammende Ausspruch kulminierte 1970 in Deutschland zum sogenannten "Nichtehelichengesetz". Auch musikalisch blieben die 60er Jahre stilprägend, wenn auch 1970 Musikgruppenauflösungen beziehungsweise Anhäufungen von Todesfällen auf der Tagesordnung standen (siehe auch Teil 3): The Beatles (10. April), Them (bereits ohne Van Morrison), Peter Green trennte sich von Fleetwood Mac, The Monkees, Jefferson Airplane erlebten in diesem Jahr den Anfang vom Ende, Lou Reed verließ Velvet Underground (1971 folgte dann das endgültige Aus der Gruppe). 1971 erfolgte die Scheidung von Simon & Garfunkel und 1972 verabschiedeten sich Quicksilver Messenger Service.

    Die Überlebenden wiederum feierten ihre (toten) Helden aus den 60ern in reminiszenter Weise. Die große Party begann, glamourös und glitzernd. Sie alle, das Publikum eingeschlossen, stampften mit, pomadisierten den Scheitel und die Hemdkrägen wuchsen und wuchsen. Hippies wurden ins Berufsleben integriert. Androgynität war in: David Bowie, Bryan Ferry, Steve Harley. Der Synthesizer hielt Einzug und somit die deutsche Formation Kraftwerk als Antithese zur Gitarre. Rock-Musik verirrte sich in die Überladenheit des Bombast. Yes, ELP, Queen, Genesis und später Meat Loaf/Jim Steinman als abschreckendste Beispiele dafür. Irgend etwas hatten sie alle zu verbergen, und sei es nur Angst, mit der elementaren Wucht der 60er Jahre nicht mithalten zu können. Wehmütige Rückblicke oder einfach Tribute - schwer, hier differenzieren zu können.

    Vielleicht mangelte es auch "nur" an neuer (bzw. beständiger) Kreativität. Was weiß ein Fremder, 1957 geboren, dessen erste Radio-Rock- Erinnerung "Rudi Ratlos" (Udo Lindenberg) war, das er liebte sowie "Wigwam" (Bob Dylan), das er derart schlecht fand, dass er entweder das Radio abschaltete oder einen anderen Sender suchte. Ach ja, da gab's (zumindest) noch einen Song: "A Hard Rain's A-Gonna Fall" von Bryan Ferry. Diesen Song liebte er auch, den Text verstand er zwar nicht, dafür aber das Lachen und den Rhythmus. Erst später, viel später, wurde ihm klar, daß sowohl "Hard Rain" als auch "Wigwam" von Bob Dylan und die rhythmische Lach-Version nicht das Original war. Da haben wir es. Was muß sich da erst ein Nirvana-Fan denken, wenn er erfährt, daß "Where Did You Sleep Last Night?" eine zwar ur-coole, aber dennoch ur-alte Leadbelly- Nummer ist?

    Aber keine Vorgriffe bitte! Wir befinden uns in den schrillen 70er Jahren, in denen wir einige neue Musikströmungen kennen lernen sollten. Die waren in den Charts artig und brav konkurrierend in Geld zählender Harmonie nebeneinander vertreten: Baccaras "Yes Sir, I Can Boogie!" genauso wie Nina Hagens Textzeile "Ich bin nicht deine Fick- Maschine!" oder Disco wie Punk. Keine Untergriffe bitte! Wir befinden uns in den schrillen 70er Jahren, in denen Akustik-Gitarren plötzlich vehement abgelehnt wurden - oder doch nicht?

    David Sandison (Island Records): "Ich sah Nick [Drake] in unserer Empfangshalle herumstehen und fragte ihn, ob er nicht in mein Büro kommen wollte. Da saß er also in meinem Büro, ein Master-Tape fest unterm Arm geklammert, sagte kein Wort, trank Tee, und dann, nach einer halben Stunde etwa, meinte er: 'I'd better be going...', das Master-Tape immer noch fest unterm Arm geklammert. Eine Stunde später rief mich die Empfangsdame an und sagte: 'Nick's left the tapes behind!' So ging ich runter und da war diese große Schachtel mit dem 16-Spur Masterband und darauf stand: 'Nick Drake: Pink Moon'." Diese Anekdote ist bezeichnend für das dritte und leider letzte Album zu Nick Drakes Lebzeiten, aber auch bezeichnend für seine letzten, schweigsamen Lebensjahre. Eingespielt wurde das Album in nur zwei Nächten. Die Ingredienzien: Nicks Stimme, seine Akustik-Gitarre sowie (nur beim Titelsong) ein paar eingestreute Piano-Klänge. Elf Songs bei einer Gesamtspieldauer von knappen 27 Minuten sind es schließlich geworden. Eine Tour-de-Force durch all sein Leiden. Intime, fragile Songs zwischen Schüchternheit, existentieller Ratlosigkeit und der Vorahnung nicht mehr lange zu leben; oder: bedrohliche, dunkle Songs, die letzte Hoffnung versagend - selbst die Schlußnummer "From The Morning", in der er einen wunderschönen neuen Tag anbrechen läßt, verheißt nichts Optimistisches. "From The Morning" ist bloß Verdrängungstaktik, denn jeder Tag endet damit, dass ihm erneut die Dunkelheit auf den Kopf fällt. Zudem diese unsägliche Sprachlosigkeit, von der er nicht mehr wegkommt. Und so schiebt er sich ein Antidepressivum nach dem anderen rein. Am 24. November 1974 schließlich ging Nick Drake früh zu Bett und kam nie wieder zurück.

    In jenen Tagen standen ein paar Musiker in einem Studio in Nashville und spielten ein Album ein, das zurecht Musikgeschichte schrieb. So manche Textzeilen führen scheinbar geradewegs salutierend zu Nick Drake, der allerdings mit Sicherheit nicht gemeint war: "I been double-crossed now for the very last time and/ now I'm finally free/ I kissed goodbye the howling beast on the borderline/ which separated you from me..."Es entlud sich der Zorn von Bob Dylan, dessen Verlust auf den Namen Sara [Lowndes] hörte und Dylan trug die zerbrochene Ehe öffentlich vor. "Blood On The Tracks" erschien am 20. Januar 1975. Verlorene Liebe, Schmerz und bittere Tränen. Die Öffentlichkeit jubelte. Da war er wieder, so wie "sie" (also wir) ihn haben wollten, noch dazu besser denn je! Zusätzlich eröffnete er mit seiner Rolling Thunder Revue neue Aspekte in Sachen Live-Musik.

    Weitere Tragödien: Phil Ochs erstickte im Suff und bei Sandy Denny weiß man nicht so genau, "did she jump or was she pushed". Marc Bolan, Keith Moon, Lowell George und - ach! - Gram Parsons ist auch so einer, der viel zu früh das Zeitliche segnete.

    1970 schaffte dafür Neil Young bezeichnenderweise mit "After The Goldrush" endgültig den kommerziellen Durchbruch. Van Morrison untermauerte seinen Ruf als ungewöhnlich vielfältiger Musiker und lieferte mit "Moondance" einen weiteren Meilenstein der Musikgeschichte ab. Ray Davies (The Kinks) forderte "Lola" zu einem Tänzchen auf und Syd Barrett vertonte seine Abgehobenheit, aber das interessierte die Öffentlichkeit kaum, denn es gab ja Pink Floyd. In den U.S.A. begaben sich die David Bromberg Band, Jerry Garcia & David Grisman sowie Ry Cooder auf die große Schatzsuche. Deren Gitarrenspiel blieb lange Zeit einzigartig, ähnlich den Texten Randy Newmans, die vor poetischem Sarkasmus nur so strotzten. J. J. Cale benutzte als einer der ersten einen Drum-Computer - Personalkosten sind eben doch teuer - seine Laid-Back-Kunst aber wird wohl immer unerreicht bleiben.

    Und Frauen? Kate & Anna McGarrigle hinterfragten ebenfalls den Mythos Americana in Form sehr familiär-persönlicher Texte. Ihr Output ist leider sehr bescheiden, die Qualität der Songs dafür umso besser. 1973 debütierte Joan Armatrading (gemeinsam mit Pam Nestor) und schuf seither wunderbare Love-Songs. Ihre Mixtur aus Folk, Blues und Reggae resultierte in reifen wie auch ergreifenden Tondokumenten. Kein Kitsch, kein Pathos, keine Oberflächlichkeiten, sondern Gefühle pur. Joni Mitchell brachte 1974 Jazz in ihre Folk-stämmigen Kompositionen und hatte hörbar Spaß dabei; ein Jahr später integrierte sie - also noch vor den Talking Heads - burundische Trommeln in ihre komplexen Songstrukturen. Ein Stück World-Music, bevor "World-Music" zum Idiom wurde.

    Kaum zu glauben, wir befinden uns immer noch in den schrillen 70er Jahren, in denen The Beatles sich mal Wings, mal E.L.O. nannten und leider eher aufgewärmt als taufrisch klangen.

    Frisches hingegen entstand wieder einmal in Amerika: Punk! Am Anfang war das Wort: Ein Comic mit heute vermutlich unbezahlbarem Sammlerwert war das auslösende Moment einer musikalischen Runderneuerung, die schließlich - wieder einmal - in GB die ersten kommerziellen Früchte trug und irgendwann in einer Sackgasse landete. Punk hieß Ablehnung, Punk war - zu Beginn jedenfalls - keineswegs politisch wie Folk-Music, sondern sehr persönlich, z.B. wenn Wayne County über "Scheiße" sang und "Scheiße" (in Form von Hundefutter) während der Live-Performance aß.

    Noch eine Frau fehlt, richtig: Patti Smith. Sie bekommt einen Ehrenplatz, denn niemand formulierte den Sound der 70er Jahre in derart gelungener Weise wie die Patti Smith Group.

    Zu guter Letzt: "The Clash" bereiteten sich auf ihr Masterpiece vor und Ende der 70er Jahre begann die große Suche nach Gott - böse Zungen behaupten, weil Elvis Presley endgültig den Löffel abgab.

    ... aber davon mehr in Teil 5.
    Plattentips zu den 70ern

    Joan Armatrading:
    "Whatever's For Us" (1973), "Back To The Night" (1973), "Joan Armatrading" (1976), "Show Some Emotion" (1977), "To The Limit" (1978), "How Cruel" (1979, EP mit nur vier Songs, aber was für welchen! Leider nicht auf CD erhältlich! Alle A&M).

    The Band:
    Zwei Live-Alben, die kaum Wünsche offen lassen:
    "Rock Of Ages" (1972, Capitol/ EMI), "The Last Waltz" (1978, Warner).

    Syd Barrett:
    "Barrett", "The Madcap Laughs" (beide 1970, Capitol).

    The Boomtown Rats:
    "The Fine Art Of Surfacing" (1979, Mercury) - Oder: Was aus Punk geworden ist ...

    David Bromberg:
    "Wanted/Dead Or Alive" (1974, Columbia) - Einer der unterschätztesten Musiker Amerikas.

    The Clash:
    "Give 'Em Enough Rope" (1978, CBS) - Die natürliche Kraft von Stromgitarren. Ein Paradebeispiel gelungener Populärmusik. Steigerung unmöglich? Falsch! Das Meisterwerk wartete bereits bei Fuß!

    Cockney Rebel:
    "The Psychomodo" (1974, EMI).

    Ry Cooder:
    "Paradise And Lunch" (1974, Warner), "Cicken Skin Music" (1976, Warner) sowie "Showtime" (1977, Warner): Letzteres ein Highlight in Sachen Live-Album. Alleine schon die Version von "Jesus On The Mainline" ist purer Genuß und gleichzeitig Frust, wenn man gerade dabei ist Gitarre spielen zu lernen ...

    Elvis Costello:
    "My Aim Is True" (1977, Demon) - Ein gelungenes Debut.

    Nick Drake:
    Vorsicht Suchtgefahr! Er wird gerne mit Robert Johnson verglichen, denn beide starben früh und von beiden gibt es nur wenig Aufnahmen, aber die sollte man alle kennen. Auf der posthum erschienenen Box "Fruit Tree" (Hannibal, 4 CD-Box, 1986) sind sie alle versammelt - in sehr edler Aufmachung, mit sämtlichen Texten und ausführlichen Liner Notes. Die Originalplatten ("Five Leaves Left", 1969; "Bryter Layter", 1970; "Pink Moon", 1972, alle Island) sind leider kaum mehr zu bekommen.

    Bob Dylan (alle Sony/Columbia):
    "Blood On The Tracks" (1975), "Desire" (1976), "Hard Rain" (1976, das leider bislang einzige offizielle Live-Dokument der "Rolling Thunder Revue"), "Street Legal" (1978, remastered 1999) und "Slow Train Coming" (1979).

    John Fogerty:
    "Blue Ridge Rangers" (1973, Fantasy) - Leider etwas untergegangen, das gute Stück. Hier zeigte jedenfalls einer, was alten Liedern mit Spielfreude Gutes angetan werden kann.

    Jerry Garcia:
    "Garcia" (1974, Round).

    Rory Gallagher:
    "Irish Tour '74" (1974, Chrysalis).

    Grateful Dead:
    "American Beauty" (1970, Warner).

    The Kinks:
    "Muswell Hillbillies" (Rhino), "Everybody's In Show-Biz" (1972, RCA), "One For The Road" (1980, Arista) - "Show- Biz" ist quasi die Gegenwartsbewältigung von The Kinks, das 80er-Live-Album ein Rückblick auf vergangene Meisterleistungen. Eine Verbeugung vor sich selbst, ohne die Punk-Bewegung außer Acht zu lassen. Die letzte bedeutende Kinks-Platte jedenfalls.

    Kate & Anna McGarrigle:
    "Kate & Anna McGarrigle" (1975), "Dancer With Bruised Knees" (1977, beide wiederveröffentlicht auf Hannibal).

    Joni Mitchell:
    "Blue" (1971), "Court & Spark" (1974), "The Hissing Of Summer Lawns" (1975), "Hejira" (1976, alle Elektra).

    Van Morrison:
    "Moondance", "His Band And Street Choir" (beide 1970, Warner Bros.); "Saint Dominic's Preview" (1972), "Hard Nose The Highway" (1973), "It's Too Late To Stop Now" (DoCD 1974, das definitive Live-Album, bis heute unerreicht!), "Veedon Fleece" (1974, alle A&M).

    Randy Newman:
    "Sail Away" (1972, Warner), "Good Old Boys" (1974, Warner) - Zumindest diese zwei Newman-Platten sollte man sein Eigen nennen.

    Rock On:
    "The Bunch" (1972, Island) - Diese Platte zu finden könnte schwer sein, aber es lohnt sich. Die Besetzung: Sandy Denny, Richard & Linda Thompson, sowie der gute Rest von den frühen Fairport Convention und Fotheringay. Eine Super-Star-Gruppe mit ausschließlich Songs von Chuck Berry, Hank Williams, etc. Gelungene Vergangenheitsbewältigung.

    Rolling Stones:
    "Beggars Banquet" (1970, Decca) - "Sympathy For The Devil" alleine genügt schon, um die Wichtigkeit dieser Gruppe zu unterstreichen. Dem folgten aber noch weitere gute Songs und Alben, z.B. "Sticky Fingers" (1971, Andy Warhols Cover ist nicht das einzig Gute dran, EMI) sowie "Exile On Main St." (1972, Für viele das Rolling-Stones-Werk schlechthin, CBS).

    Roxy Music:
    "For Your Pleasure" (1973, EG/Virgin) und "Country Life" (1974, EG/Virgin).

    Earl Scruggs And The Scruggs Revue:
    "Live At Kansas State" (1972, CBS) - Country-Rock, der einfach Spaß macht!

    Sex Pistols:
    "Never Mind The Bollocks Here's The Sex Pistols" (1977, Virgin).

    Patti Smith :
    "Horses" (1975), "Radio Ethiopia" (1976), "Easter" (1978), "Wave" (1979, alle Arista/BMG).

    Sparks:
    "Indiscreet" (1975, Island) - Die Mael-Brothers swingen sich durchs abgefahrene Amerika. Punk-Rock paarte sich da mit Benny Goodman.

    Talking Heads:
    "Fear Of Music" (1979, Sire) - Dem Musikgeschehen war das Quartett eine gute Dekade voraus.

    Richard & Linda Thompson:
    "I Want To See The Bright Lights Tonight" (1974, Island).

    Loudon Wainwright, III:
    "Unrequited" (1975, CBS) - Halb Studio, halb Live, so auch das Cover: auf der einen Seite lacht er, auf der anderen weint er. Zumindest die Live-Seite sollte man nicht versäumen!

    Tom Waits:
    "Closing Time" (1973, Asylum) - Der Mann war von Beginn an gut. Diese Platte steht gleichzeitig für alle anderen.

    Neil Young:
    "Harvest" und "Rust Never Sleeps" kennt ja mittlerweile schon jeder, aber kennt ihr auch "Zuma" (1975, Warner) und "American Stars'n'Bars" (1977, Warner)? Nein? Dann schnell mal kaufen!

    Warren Zevon:
    "Excitable Boy" (1978, Warner) - Für mich eine All-Time-Lieblingsplatte.

    PS.:

    Da gäbe es noch so viel gutes Hörmaterial - aber irgendwann muß ja Schluß sein ... bis zum nächsten Teil mit den 1980ern.
Sonntag, 12.8.2001, 14:48  Robert Morten

Die 60er Jahre
    "Ich will nicht wie mein Alter werden", oder: "Everybody Must Get Stoned".
    Was bisher geschah: 1948 erschien Slim Whitmans "I'm Casting My Lasso Towards The Sky"; dieser Song sollte 1997 die Menschheit vor den "Mars Attacks!" bewahren. 1923 experimentierte Lloyd Loar als Erster mit einer elektrisch verstärkten Gitarre und in den späten 30ern benützte Les Paul bereits erfolgreich die E-Gitarre als Live-Instrument - somit war alles anders, die Folgen daraus kennen wir alle. Die Musikwelt hatte sich neu zu orientieren. Mitte der 50er Jahre erfolgte in den Sun-Studios (Memphis, Tennessee) offiziell die Geburt einer neuen, stilprägenden Musik-Epoche namens Rock'n'Roll. Und: 1959 war das Geburtsjahr des vorläufig letzten Folk-Revivals: in Newport geboren, ebendort 1965 zu Grabe getragen.

    Womit sind wir mitten in den 60ern und bei einem Phänomen, mit dem die Folk-Puristen einige Zeit haderten - dem Folk-Rock:"Ich saß da in diesem Café, schnippte mit den Fingern und sagte: Folk-Rock!" (Bob Dylan auf die Frage, wie Folk-Rock entstanden sei). Bevor es aber dazu kam, schien die Folk-Welt noch in Ordnung. Da standen sie auf der Bühne und spielten wie ehedem und immer die Traditionals ihrer Großmütter und -väter. Von Joan Baez, recht bald zur Folk-Queen erkoren, bis hin zu Pete Seeger - die Namensliste ist kürzer als sie sein könnte: Martin Carthy, Leonard Cohen, Judy Collins, Donovan, Ramblin' Jack Elliot, Kingston Trio, Joni Mitchell, Maria Muldaur, Phil Ochs, Odetta, Peter, Paul & Mary, Dave Van Ronk, Eric Von Schmidt, Simon & Garfunkel, The Weavers u.v.v.m.

    In ihren Grundmauern erschüttert wurde die Folk-Scene, als ein halbwüchsiger, vor Selbstvertrauen strotzender Jüngling daherkam, der (angeblich) kaum Gitarre spielen konnte und dessen Gesang sich eher ungewöhnlich anhörte. Zudem versuchte er erst gar nicht, Note für Note nachzuspielen, sondern den Songs Individualität einzuhauchen. So einer hat uns gerade noch gefehlt - wer weiß, wie oft dieser Satz (un)ausgesprochen in der Folk-Szene herumschwirrte. So mir nichts dir nichts begann er außerdem Songs zu schreiben - ja, darf er denn das? Bob Dylan tat jedenfalls, was er tun mußte und wir können eigentlich nur dankbar sein. Irgend jemand mußte ja den Anfang machen. Bob Dylan war plötzlich begehrt - nur John F. Kennedy war beliebter - und wurde zum "Sprecher" einer ganzen Generation "gekürt", was ihm gar nicht recht war. Mit "Another Side Of Bob Dylan" stellte er die Puristen zum ersten Mal auf die Probe - aber es war eben "Another Side" und akustisch - Glück gehabt!

    Die darauf folgenden 3 Alben ("Bringing It All Back Home", "Highway 61", "Blonde On Blonde") und vor allem seine Auftritte beim Newport Folk Festival 1965 und seine Tour mit The Band lösten eine Kontroverse zwischen Publikum und Künstler aus, die ihresgleichen suchte. Dies kann man in unzähligen Büchern ausführlichst nachlesen - und, was viel wichtiger ist, seit kurzem auch offiziell nachhören (Bob Dylan: "Live At The Albert Hall - Official Bootleg Series Vol.4").

    Der Sound der 60er Jahre - wir kennen ihn alle, aber es ist mehr ein Gefühl denn etwas (Be)greifbares. Auf unzähligen Platten dokumentiert, auf Vinyl trotz, und vermutlich sogar aufgrund tontechnischer Mängel intensiver nachvollziehbar als per Laser-Konserve, brachte uns dieses Jahrzehnt den großen musikalischen Aufbruch in bis dahin undenkbare Klangwelten: Bob Dylan (akustisch und elektrisch), Van Morrison (mit und ohne Them), The Beatles (mit und ohne LSD), The Rolling Stones (mit und ohne Brian Jones), The Velvet Underground (mit und ohne Nico), The Doors (nur mit Jim Morrison) als Speerspitze des 60's Groove. Aber auch (heute noch) unbekanntere Gruppen wie The Fugs, die in all ihrer Unberechenbarkeit diese Dekade zur wertvollsten der Pop-History werden ließen. Sie alle griffen wie selbstverständlich auf bereits Bestehendes zurück (s.a. Teil 1 & 2 dieser Serie), um etwas Neues zu schaffen.

    Die 60er waren auch das Jahrzehnt der großen Schatten - Vietnamkrieg, Kalter Krieg, das unüberwundene Trauma der NS-Vergangenheit: Mauern wurden errichtet. Rassismus war beliebt wie immer. Protest entstand: "Remember the war against Franco?/ That's the kind where each of us belongs/ Though he may have won all the battles/ We had all the good songs..." - zynisch spöttelnd wie bei Tom Lehrer oder mit unbeantwortbaren Fragen, deren Antworten der Wind transportiert; oder Solidarität wie jene in "We Shall Overcome", eine (mittlerweile fast vergessene) Hymne der 60er-Folkies.

    Allen Ginsberg prägte den Terminus "Flower Power", aber da waren die 60er schon fast vorüber: "...There was a time/ When the river was wide/ And the water came running down/ To the rising tide/ But the wooden ships/ Were just a hippie dream/.../ If you know what I mean..." wird Neil Young 1986 zu singen wissen. Am Ende der Dekade erschien noch mit Van Morrisons "Astral Weeks" eines der imponierendsten Klanggemälde, eine Mixtur aus Rock, Folk, Jazz und Blues - eine Zusammenfassung dieser Zeit sozusagen, mittlerweile längst zum Mythos erklärt.

    Das Medium Schallplatte, meinte Jerry Garcia, begrenze Musik. Gut, dass es das Festival bei Woodstock (13.-15. August 1969) gab. Auch eine Erfahrung, die neu war und zugleich stolz machte: "...by the time we got to Woodstock/ we were half a million strong..." (Joni Mitchell, 1970). Aber die Träume, daß es so weitergehen könnte, zerplatzten. Die ersten (Drogen)-Opfer waren zu beklagen: Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison; Dylan rettete sich, indem er eine Familie gründete, The Beatles lösten sich auf - und so begannen die 70er eher desillusionierend ...
    Plattentips zu den 60ern

    Tom Lehrer: "That Was The Year That Was" (1965) - Satirischer Zynismus par excellence!

    The Fugs: "First Album" (1965), Virgin Fugs: "For Adult Minds Only" (1965) und The Fugs: "The Fugs" (1966; alle Base Records - ESP Folk Archive Recordings 1018, 1028, 1038)

    Tuli Kupferberg, Ed Sanders und Ken Weaver, The Fugs eben, waren bewußt radikaler, dafür weniger musikalisch als Zappas Mothers Of Invention, deren Alben - neben weiteren - ebenso in jedem Plattenschrank zu finden sein sollen:

    Mothers Of Invention: "Freak Out!" (1966) und "We're Only In It For The Money" (1968)

    Roy Harper: "The Sophisticated Beggar" (1967; Strike JHL 105) und "Folkjokeopus" (1969; Liberty)

    Live eine Sensation, im Studio meistens gescheitert:
    Grateful Dead: "Workingman's Dead" ist die löbliche Ausnahme. Das Album erschien zwar erst im Mai 1970, besitzt jedoch das Feeling und den Sound der 60er Jahre.

    Johnny Cash: "At Folsom Prison" (1968, aktuell wiederveröffentlicht) und "At San Quentin" (1969) - Outlaw-Country-Rock at its best.

    The Band: "Music From Big Pink" (1968; Capitol) sowie Bob Dylan & The Band: "The Basement Tapes" (1967 aufgenommen erschienen 1975, Columbia/Sony).

    Amerika mag groß sein, aber diese Musik ist noch um einiges vielfältiger, mythisch und inspirierend:
    Van Morrison: "Astral Weeks" (Warner 1968).

    Ebenfalls aus GB:
    Fairport Convention: "Unhalfbricking" (Hannibal 1969) und Sandy Denny & The Strawbs (Hannibal 1967, erschienen 1973).

    Und sonst?

    "... take what you need, you think will last/ But whatever you wish to keep, you better grab it fast ..."
Sonntag, 12.8.2001, 14:43  Robert Morten

Die frühen Jahre (1946 bis 1959)
    Country & Folk-Music, American Yodeling 'Round And 'Round Hitler's Grave
    "Hankville 1952" - In der Nacht in der Hank Williams im Alter von 29 Jahren starb, begann das Jahr 1953 - die Country-Music war, wie sein bis heute wohl einflußreichster "Honky Tonker", noch keine 30 Jahre alt, denn der offizielle Startschuß für den Musikstil "Country-Music" fiel mit einer Handvoll Aufnahmen am 1. August 1927, abgegeben von einem gewissen James Charles Rodgers, allgemein bekannt als Jimmie Rodgers, der hier auch gleich einen seiner berühmten "Blue Yodels" einspielte, nämlich "Blue Yodel #1 - T For Texas". Am gleichen Tag - denn doppelt hält ja bekanntlich besser - stand im Studio auch die wohl berühmteste Country-Music-Familie: The Carter Family. Insgesamt vielleicht ein Dutzend Songs, die den Boden für eine der besten Geldquellen der Musik-Industrie bereiteten.

    Szenenwechsel: John Lomax stieß bei seinen Feldforschungen in einem Gefängnis auf Huddie Ledbetter (1888-1949), der aufgrund seiner Performance begnadigt wurde. Die Tagespresse kündigte ihn bei seinem ersten öffentlichen Auftritt (4.1.1935, Hotel Montclair, N.Y.) noch als "Murderous Minstrel" an, tags darauf jedoch feierten sie ihn als "King of the 12-String-Guitar". Die Rede ist vom Folk-Sänger Leadbelly, der wie kaum ein anderer die Musik-Szene beeinflußte. Ohne ihn stünden Sänger wie Van Morrison heute vielleicht nicht im Bühnenlicht, sondern ... müßig, darüber nachzudenken. Zwei Beispiele von vielen, die gewissermaßen auch für eine Neuorientierung in der damaligen Musikszene stehen.

    "Smithville 1952" - Der Begriff Folk-Music erklärt sich von selbst, wenn man vor allem ein Werk in Betracht zieht, nämlich die "Anthology Of American Folk-Music", editiert von Harry Smith. Mit dieser Compilation, erstmals 1952 auf 6 LPs erschienen und 1997 in einer 6 CD-Box wiederveröffentlicht (jeweils von Smithsonian Folkways), eröffnet sich den Hörern eine längst vergessen geglaubte Welt, die zudem der Musikwelt nachhaltig ungeahnte Möglichkeiten zur Weiterentwicklung bot. Von dieser "Bibel" lernte Bob Dylan ebenso wie Beck, Kurt Cobain oder Elvis Costello, um nur einige wenige zu nennen; O-Zitat Dave Van Ronk 1991: "We all knew every word of every song on it, including the ones we hated..." Was ist das Besondere gerade an diesem Kompendium von Songs - es gibt ja so viele?! Da spielen sicherlich mehrere Faktoren zusammen: Zum einen erschien das Original, wie bereits erwähnt, 1952, also in jenem Jahr, in dem die berüchtigte McCarthy-Ära ihren Höhepunkt fand, und Amerika führte nicht nur Krieg mit sich selbst, den eigenen Landsleuten, sondern auch Krieg gegen Korea. Zum anderen finden sich auf der Anthologie höchst unterschiedliche Songs, die 1952 bereits zwanzig Jahre und noch älter waren und schon zum Zeitpunkt der Einspielung teilweise als "altmodisch" galten. Der gesamte Farbenreichtum Amerikas fand hier Unterschlupf, keine Stilrichtung, die hier verdrängt oder vergessen wurde. Zusätzlich war es die Ausnützung eines neuen Mediums: der Langspielplatte.

    Zurück zu Jimmie Rodgers: Gemeinsam mit zwei befreundeten Musikern, Lucien "Piggy" Parks und Goebel Reeves, fuhr der noch unbekannte "Singing Brakeman" in einem Ford Model T quer durch die Staaten und tourte. Lange vor 1927 passierte diese Tour und Jimmie Rodgers nutzte den Kunstgriff, den er von Goebel Reeves lernte, am besten, machte ihn schlußendlich bekannt und wurde dadurch berühmt: American Yodeling. Goebel Reeves, der in einem seiner seltenen Radio-Interviews erklärte "I made it a rule never to stay in one place longer than six months", reiste logischerweise viel herum, mit dem Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg kam er sogar bis nach Europa. In Europa hörte er zum ersten Mal Menschen jodeln, und das nahm er - neben einer Schußwunde - mit zurück in die Staaten. Nach Beendigung der Tour mit Rodgers und Parks heuerte Reeves an, um nochmals nach Europa zu gelangen. Irgendwo in Italien, so um 1928, kurz vor der Rückreise, hörte er eine vertraute Stimme aus einem Grammophon-Laden: Jimmie Rodgers, jodelnd ... Goebel Reeves' erste Reaktion: "Wenn Jimmie damit erfolgreich ist, warum nicht auch ich?" Zurück in den U.S.A. nahm er Dutzende von Songs auf, die mit einer Ausnahme ("Hobo's Lullaby", das spätere Lieblingslied von Woody Guthrie) keine besonders große Resonanz hervorriefen ...
    The Yodeling Teachers - Plattentips

    Sowohl Folk- als auch Country-Music kann teuer zu stehen kommen, aber Anlässe, zu denen man sich etwas schenken lassen kann, gibt es genug. Und warum nicht mal CD-Boxen!

    Die erste ist die oben ausführlicher beschriebene "Anthology Of American Folk Music", die als Standardwerk einfach unentbehrlich ist.

    Gleich daneben und danach sollte die bei Bear Family erschienene 10-CD-Box (ja, ja, die armen Verwandten!) "Songs For Political Action - Folkmusic, Topical Songs And The American Left, 1926-1953" den Plattenschrank füllen. Diese umfaßt im wesentlichen frühe Protest-Songs und bietet neben Musik auch ein umfassendes, 208-seitiges Nachschlagewerk mit sämtlichen Texten und der Geschichte über Aunt Molly Jackson, die verantwortlich für das erste Folk-Revival der Musikgeschichte überhaupt war. Aunt Molly Jackson gilt als Entdeckerin von Woody Guthrie und Pete Seeger und ist neben der ersten Folk-Music-Gruppe (Almanac Singers), Josh White, Earl Robinson, Sis Cunningham uvam. auch als Sängerin auf dieser Box vertreten - ein Erlebnis, das man nicht versäumen sollte!

    Aber auch was Country-Music angeht, sind teure Boxen keine Seltenheit, wenn auch nicht in Form von Compilations. Zwei sehr liebevolle Zusammenstellungen seien daher primär empfohlen:

    Jimmie Rodgers: "The Singing Brakeman" (Bear Family, 6 CD & Buch, 1994) - bevor man einzelne Sachen kauft, sollte man es sich gut überlegen, denn früher oder später wird man alles kennen wollen von J.R.!

    Ein Box-Set von Hank Williams Sr. darf natürlich auch nicht fehlen und ist eigentlich ein Muß: "The Complete Hank Williams" (10 CD, Polygram 1998) heißt das gute und teure Stück Musikgeschichte. Einen kompletten Hank Williams kann man mit viel Glück auch noch auf LP ergattern: In schmuckem Ledergewand präsentiert sich die 12-LP-Box mit dem Titel "The Immortal Hank Williams" (MGM) für uns Mitteleuropäer recht skurril, da die in japanischer Sprache abgedruckten Texte das Mitsingen erheblich erschweren.

    Auch Leadbelly kann man sich einiges Geld kosten lassen, denn die von Smithsonian Folkways herausgegebenen "Last Sessions" (4 CD, 1994) mit umfangreichem Booklet bieten so ziemlich das Feinste an "alter" Musik.

    Von Woody Guthrie und Pete Seeger gibt's ebenfalls jede Menge, wobei Pete Seeger auf oben erwähnter 10-CD-Box mit Political Songs eine ganze CD gewidmet ist.

    Wer's sparsamer angehen möchte, dem sei viel Glück gewünscht, denn die alten Sachen finden sich leider nur mehr auf Plattenbörsen zu teilweise doch recht unverschämten Preisen. Trotzdem einige Empfehlungen:

    Pete Seeger and Sonny Terry: "Recorded At Their Carnegie Hall Concert" (Folkways, 1957), ”American Favourite Ballads" (Folkways, 1957) sowie "Darling Corey" (Folkways, 1950); "Darling Corey/Goofing-Off Suit" ist seit 1993 auch wieder auf CD erhältlich.

    Bei Woody Guthrie wird das Ganze leider etwas unübersichtlich; Unmengen von "Best-Of"-Compilations überschwemmen den Markt; die wenigsten sind wirklich zu gebrauchen, aber es gibt auch Ausnahmen, natürlich von Smithsonian Folkways: ”Vol. 1-4 - Asch Recordings" (Asch = Moses Asch, der Gründer von Smithsonian Folkways Recordings): 1997 erschien die erste Folge, seit neuestem ist diese Sammlung von Guthrie-Songs auch als Set erhältlich - das Wesentlichste, wenn man so will.

    Essentiell und als Ergänzung zur Guthrie-Sammlung sei noch "12 Balladen über Sacco und Vanzetti" erwähnt (Pläne, 1979). Die Platte ist wie eine 4-seitige Extra-Ausgabe einer Tageszeitung aufgemacht, die Songs selbst stammen aus den Jahren 1946/47.

    Zu guter Letzt noch zwei Tips:

    "The Original And Great Carter Family" (RCA 1962): Die ursprüngliche Zusammensetzung, bevor sie in die Brüche ging. Eine schöne Zeichnung ziert das Cover und mit "Little Moses" und "Wabash Cannon Ball" sind zwei der besten Carter-Songs auf dem Album vertreten.

    Last but not least:

    The Yodeling Teacher, Goebel Reeves, mit den vermutlich einzigen noch regulär erhältlichen Tonaufnahmen: "Hobo's Lullaby" (Bear Family, 1994) enthält 26 Edel-Kuriositäten. Das feinste und schärfste American Yodeling ever und dann noch die Texte! "I know the police cause you trouble they make trouble everywhere/But when you die and go to heaven, you'll find no policemen there."

    PS.:

    Mit dem Teil 3 geht's dann schon fast in die Gegenwart: Die ersten Stromstecker tauchen auf, die "Traditionalisten" begeben sich auf die Suche nach "Judassen" und Nashville wird Dividenden-Hauptstadt - die 60er Jahre also. Zur Einstimmung noch ein Hörstück-Tip: XTCs "The History Of Rock & Roll", zu finden auf "Rag & Bone Buffet" (Geffen 1990).
Sonntag, 12.8.2001, 14:36  Robert Morten

Die ganz frühen Jahre (bis 1945)
    "Me And The Devil Blues"
    Ein musikalischer Rückblick aufs 20. Jahrhundert sollte eigentlich mit den Feldforschungen von Francis James Child beginnen, der zwischen 1882 und 1898 sein fünfbändiges Werk "The English and Scottish Popular Ballads" veröffentlichte und dadurch das Aussterben traditioneller Folk-Songs (heute bekannt als "Child Ballads") verhinderte; oder der Einstieg sollte am Anfang des Jahrhunderts erfolgen, als John Lomax die Lieder der Viehtreiber sammelte und diese 1910 im Buch "Cowboy Songs" verewigte - ohne ihn wäre z.B. "Streets Of Laredo" heute unbekannt. Beide Forschungsarbeiten (und fortführende mit Alan Lomax und Charles Seeger) bilden heute den Grundstock des "Archive of American Folk Song at the Library of Congress in Washington", das im Mittelpunkt des Folk-Revivals am Ende der 50er-Jahre stand.

    Der Rückblick könnte auch inmitten der "Crossroads" der Südstaaten beginnen - mit der Legende von Robert Johnson, der mit dem Teufel um die Wette Gitarre spielte und gewann. Sogar dem deutschen Schlager ist diese nicht unbekannt, wenn sie auch dort bis zum Exzeß verunstaltet wurde; und Keith Richards wollte von Brian Jones wissen, wer denn der zweite Gitarrist sei ("Das ist nur einer." - "Nur einer?" - "Nur einer!"), als die Rolling Stones zum ersten Mal Aufnahmen von Robert Johnson hörten, der es zeitlebens auf bloß 41 Aufnahmen von insgesamt 29 Kompositionen brachte, bevor er am 16. August 1938 vergiftet wurde. Ja, ja, die Eifersucht ...

    Diese drei Kurzbeispiele zeigen jedenfalls deutlich, daß sich die populäre Musik, so wie wir sie heute kennen, aus historischen Quellen speist; sei es in der Folk-Music, im Country oder im Blues, die seit jüngerer Gegenwart wiederum auch interdisziplinär verarbeitet werden - wie die Verarbeitung des Songs "Stagger Lee" beweist (unter anderen verschiedenen, ähnlichen Schreibweisen bekannt): Tom Jones, Nick Cave, Sly & The Family Stone, The Clash, Neil Diamond, Johnny Rivers, Professor Longhair und unzählige mehr versuchten sich an einer definitiven Version ...

    Aber bleiben wir beim Blues: Originalaufnahmen aus den Anfangsjahren zu erhalten ist vermutlich unbezahlbar, aber dank der technischen Entwicklung und vor allem dank engagierter Musikliebhaber ist es nicht schwer, historische Aufnahmen auf digitaler Basis zu ergattern. Viele scheuen sich allerdings davor und geben sich mit Cover-Versionen zufrieden. Aber, und das sollte uns allen klar sein, ein Eric Clapton wird nie an ein Robert-Johnson-Original herankommen, selbst wenn er mit dem Teufel paktiert - und das hat uns wohl auch Bob Dylan in einem seiner besten Songs ("Blind Willie McTell") mitzuteilen versucht, daß die Blues-Sängerinnen und -Sänger der Frühzeit unerreicht sind; technisch perfekter mögen all die Claptons und Knopflers sein, was aber deren Intensität anbelangt, haben sie vermutlich noch nicht mal Gesellenstatus erreicht.
    Somit seien einige Kaufempfehlungen ausgesprochen:

    Da hätten wir einmal "The Complete Recordings" von Robert Johnson (DoCD mit umfangreichem Booklet, Sony/Columbia), für Schallplattensammler essentiell hingegen die zwei Einzelplatten "King Of The Delta Blues Singers" (Vol. I, 1966 und Vol. II, 1970, jeweils Sony/Columbia) mit sehr schönem handgezeichneten Cover; beide Alben zählen zu den besten Blues-Platten ever.

    Eine sehr schöne, allerdings nicht zur Gänze gelungene CD-Reihe (Vorsicht bei Roy Brown!): die "Capitol Blues Collection" (Capitol/EMI), ebenfalls mit handgezeichneten Covers, wurde ab 1995 veröffentlicht, wobei Teil 4 ("Rediscovered Blues", DoCD) mit Brownie McGhee, Sonny Terry, Lightnin' Hopkins und Big Joe Williams den Höhepunkt der 14-teiligen Serie darstellt und gleichzeitig so ziemlich zum Besten zählt, was ich jemals hören durfte. Die 34 Tracks entstanden zwischen 1959 und 1968, also mitten im Folk-Revival, und in dessen Sog begaben sich Alan Lomax, Pete Seeger & Co. "auf Spurensuche", um es stark verkürzt zu formulieren (so wie vor wenigen Jahren ein gewisser Ryland Cooder gemeinsam mit Sohn Joachim nach Kuba aufbrach ...).

    Bei dem damals beliebt-berühmten (und in den 80er Jahren wiederbelebten) Newport Folk-Festival traten zwischen 1959 und 1964 die z.T. durch Zufall wiederentdeckten Blues-Sänger Mississippi John Hurt ("Candy Man"), Brownie McGhee & Sonny Terry, Reverend Gary Davis, Skip James, Jesse Fuller u.a. auf (auch ein gewisser John Lee Hooker). "Blues At Newport" (Vanguard, 1989) macht großen Appetit, der leider ungestillt bleibt, da anscheinend keine Fortsetzung bzw. Komplettierung in Aussicht steht.

    "Last Session" von Blind Willie McTell (Zyx-Music, 1992) ist ein weiterer Meilenstein der Blues-Geschichte. Die zum Großteil 1956 entstandenen Aufnahmen erklären Bob Dylans Refrain im oben angeführten Song.

    "Sonny Terry & Brownie McGhee At Sugar Hill" (Fantasy, 1961; remastered 1991) sowie Willie Dixon & Memphis Slim mit "Willie's Blues" (Prestige, ca. 1959) und Big Bill Broonzys "Big Bill's Blues" (CBS, 1988) zählen ebenfalls zu unverzichtbaren Haushaltsartikeln.

    Zu guter Letzt sei noch die "Hoodoo Lady" Memphis Minnie (Sony/Columbia, 1991) erwähnt: Sie beeinflußte Chuck Berry, J.B. Lenoir und andere, spielte Country-Blues, Post-War-Blues, Chicago-Blues und zählt zu den ersten Verfasserinnen feministischer Texte.

    P.S.:

    Der zweite Teil gibt eine Kurzübersicht zur Folk- und Country-Music, damit wir darauffolgend frisch und fröhlich in die "Musik-Neuzeit" eintauchen können. Übrigens: Meine Blues-Leidenschaft begann 1980 im Alter von 23 Jahren: Eine englische Gruppe namens Nine Below Zero brachte mit "Live At The Marquee" (A&M Rec., 1980) ein R&B-Album heraus, worauf - man staune und höre! - ein einziger waschechter Blues zu hören ist, nämlich "I Can't Quit You Baby" von Willie Dixon - dieser Song stellte bei mir die Weiche.
    Paola dürfte mir heute noch böse sein ...
Sonntag, 12.8.2001, 14:23  Robert Morten




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